Texttreu bis zur Entgrenzung
Wenn sich Regisseur Nicolas Stemann für die Salzburger Festspiele „Faust“ vornimmt, dann müsste er vor der Rache eines Manne sicher sein: der Daniel Kehlmanns. Kehlmann hatte sich in Salzburg als Gegner des Regietheaters geoutet und sich eine Stemann-Replik eingehandelt. Stemann liebt den „Faust“-Text und lässt seine Aufführungen auch von der Textdynamik in ungeahnte Längen davontragen.
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Vor zwei Jahren trat der Jungautor und Bestseller Kehlmann mit einer scharfen Abrechnung bei den Salzburger Festspielen an. Das „Regietheater“ diene nicht mehr den Autoren, so Kehlmanns Kritik in seiner Eröffnungsrede, in der er sich u. a. über unmotiviert Spaghetti-essende Darsteller ebenso alterierte wie übermäßige Blutspritzer.
Der von Kehlmann konstatierte Schulterschluss von „Kitsch und Avantgarde“ bewegte den deutschen Regisseur Stemann zu einer Replik: Nicht schon wieder dieser Kampf gegen die „Schimäre Regietheater“, konterte Stemann via „Süddeutsche Zeitung“: „Vorurteile werden nicht wahrer dadurch, dass sie immer wieder jemand nachplappert“, so der Theatermacher. Als Regisseur wollte man sein Publikum auf eine „ungeahnte Reise“ mitnehmen, so Stemann.

APA/Barbara Gindl
Zwei Seelen, aber nur ein Gretchen. Wie werktreu ist Stemanns „Faust“? Sehr, würde der Regisseur behaupten.
Den Text beim Wort nehmen
Stemann definierte „Werktreue“ jedenfalls so: Text- und Werktreue könne man so sehr „beim Wort nehmen“, dass daraus eine ganz neue, gleichermaßen künstlerisch eigenständige wie dem Text dienende Form entstünde. Klassische Tragödie und Performance leitet er etwa bei seiner Arbeit an Schillers „Räubern“ aus dem Text ab. Die „alten Kampfbegriffe zerschellen - der Text wird in Theater übersetzt, das Stück wird hergestellt, der Zeitwiderstand überwunden“, so Stemann zu seiner Auffassung von Regiearbeit.
Gerade an den Stücken Elfriede Jelineks, die der 1968 in Hamburg geborene Stemann sehr oft zur Uraufführung gebracht hatte, lässt sich seine Liebe zum Spielen aus dem Text ablesen. Da wurde in den „Kontrakten des Kaufmanns“ Theater zu einer beinahe rituellen Performance, die ihre Dynamik aus der Jelinekschen Verwurstung des Börsenlateins bezog.

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Nicolas Stemann (links) mit Schauspieler Philipp Hochmair bei den „Faust“-Proben
Wer ist der Hauptdarsteller?
Nun, da sich Stemann für die Salzburger Festspiele an beide Teile von Goethes „Faust“ machte, darf man auch den Text als den eigentlichen Hauptdarsteller ansehen. Mit nur drei Darstellern kommt Stemann für den ersten Teil des Stücks aus. Wieder einmal mit dabei: Sebastian Rudolph und der Wiener Philipp Hochmair. Sie tragen zusammen mit Patrycia Ziolkowska den ersten Teil des Goethe’schen Textmassivs ab. Für den abenteuerlichen zweiten Teil des „Fausts“ kommt Stemann mit der Hereinnahme von nur drei weiteren Schauspielern aus (Barbara Nüsse, Birte Schnöink und Josef Ostendorf).
Eigentlich wird kaum gekürzt in Stemanns Inszenierung. Der Regisseur folgt dem Text relativ genau. Allerdings sind die Rollen durchlässig. So ist Hochmair „überwiegend“ Mephisto und Rudolph „meist“ Faust. Doch auch Ziolkowska ist neben der Darstellung aller Frauenrollen im ersten Teil „ein bisschen“ Faust.
„Durchlässige Grenzen“
„Die Grenzen der Figuren sind durchlässig“, erläuterte Stemann im Vorfeld der Inszenierung, und: „Der Text spielt die Hauptrolle. Allerdings im Sinne eines Monologs.“ „Ich glaube, dass Faust und Mephisto nicht zu trennen sind“, so Stemann: „So wie zwei Seelen in einer Brust. Das Teuflische ist wie eine plötzlich auftauchende zweite Option, eine Entscheidung im Leben des Faust, der sich plötzlich erlaubt, ein Arschloch zu sein und sich nicht mehr um Moral und das Wohlergehen der anderen kümmert.“
Am Theater interessiere ihn, „Grenzen zu sprengen“, so der Autor zu dem gemeinsam mit dem Hamburger Thalia-Theater koproduzierten „Faust“-Marathons: „Es sind vor allem scheinbar unlösbare Texte, die sich nicht so einfach erschließen, die uns alle herausfordern, auch überfordern, und unsere Köpfe zum Rauchen bringen. Deswegen habe ich mich nicht nur intensiv mit den deutschen Klassikern, sondern auch immer wieder mit Elfriede Jelinek beschäftigt.“
Spektakel und Psychotrip
Es wäre natürlich keine Stemann-Inszenierung, wenn nicht die musikalische Improvisation auf der Bühne mit eine entscheidende Rolle spielen sollte. Drei Musiker unterstützen die Schauspieler. Das Stemann’sche Theaterspektakel, das auch Video, Tanzeinlagen und ein Puppenspiel inkludiert, dauert knapp neun Stunden. Als teils rauschartigen Psychotrip rekapitulierte Ziolkowska die einjährigen Probearbeiten: Vor allem Erschöpfungszustände könnten völlig andere Türen öffnen und Zugang zu bisher nicht Erlebtem verschaffen.
Gerald Heidegger, ORF.at
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