Warten auf Wahl im September
Der 25. Jänner 2011 war ein entscheidender Tag für die Revolution in Ägypten. Nach tunesischem Vorbild gingen Tausende für Gerechtigkeit und Freiheit auf die Straße. Die ägyptische Aktivistin Esraa Abdel Fattah war maßgeblich daran beteiligt, die Massen zu mobilisieren und den ersten großen Revolutionstag in Ägypten zu organisieren.
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„Unser Ziel war, dass das Regime von Hosni Mubarak zurücktritt, politische Gefangene freigelassen werden und der Ausnahmezustand aufgehoben wird“, sagte sie im ORF.at-Interview. Wegen Arbeitslosigkeit und hoher Lebensmittelpreise seien sie nicht auf die Straße gegangen. Abdel Fattah war anlässlich einer Veranstaltung des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (OIIP) und der Anna-Lindh-Stiftung über den Wandel und die Zukunft Ägyptens in Wien.

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Esraa Abdel Fattah war eine Aktivistin der ersten Stunde.
Abdel Fattah wurde schon durch die Gründung der 6.-April-Bewegung im Jahr 2008 bekannt. Ein von ihr damals organisierter Streik von Arbeitern brachte sie für einige Zeit ins Gefängnis. Die aktuelle Protestbewegung von 2011 erreichte einige Ziele: Die wichtigste Forderung - der Rücktritt Mubaraks - wurde erfüllt. Der Ausnahmezustand soll bis Mitte Juni aufgehoben werden. Glücklich ist Abdel Fattah dennoch nicht. Zu deutlich sind die Spuren des alten Regimes.
Ringen um Einfluss
„Dem bisherigen Regime geht es gut. Mubarak ist zwar weg, das Militär ist aber weiterhin an der Macht“, analysiert Ägypten-Experte Tarek Osman bei der Veranstaltung. Er definiert drei Gruppierungen, die nach der Revolution um Einfluss ringen. Militär und mächtige Wirtschaftsvertreter, die dem Regime nahestanden, hätten weiterhin großen Einfluss in Ägyptens Wirtschaft, der auch bleiben werde.

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Ägypten-Experte Tarek Osman
Als weiteren Akteur sieht Osman die liberale Bewegung. Diese werde in Europa aber oft falsch interpretiert. Sie vertrete vor allem einen säkularen Hintergrund und setze sich aus mehreren zerstreuten Gruppen zusammen. Problematisch sei, dass die Liberalen außerhalb von Kairo und Alexandria nur eine kleine Anhängerschaft haben. Auch die islamistische Bewegung bilde keine Einheit. Osman: „Es gibt große Unterschiede zwischen der Führung der Muslimbrüder und vielen jüngeren Mitgliedern, zu ultrakonservativen Gruppen und zu liberalen Muslimen.“
Zersplitterte islamistische Bewegung
Unklar ist laut Osman, in welche Richtung sich Ägypten orientiert. Die islamistische Bewegung habe sich in den letzten 30 Jahren stark weiterentwickelt. Verfolgte sie in den 70er Jahren noch terroristische Ziele, ist sie mittlerweile liberaler geworden. Er erwartet, dass sich unter den zahlreichen Strömungen sukzessive die liberale Strömung unter den islamistischen Gruppierungen durchsetzen werde, analysiert Osman im ORF.at-Interview. Insbesondere die Mittelklasse wolle Konflikte vermeiden, die durch eine Radikalisierung entstehen könnten.
„Autoritäre Kultur intakt“
Wie erfolgreich war die Revolution tatsächlich? Osman bezeichnete die bisherigen Errungenschaften in einer so kurzen Zeit als Erfolg, war es doch das erste Mal in Ägypten, dass ein langjähriger Machthaber auf den Druck der Straße hin aus dem Amt gejagt wurde: „Die Straße sagt, was sie braucht. Das sind die Wurzeln der Demokratie.“
Die Politologin Maja Kassem ist weniger optimistisch. Die Revolution habe zwar „die Angst vor der Autorität“ gebrochen, aber die autoritäre Kultur sei intakt geblieben: „Wenn das Militär einen Weg findet, an der Macht zu bleiben, wird es das tun“, ist die Expertin von der Amerikanischen Universität in Kairo nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Interessen des Militärs überzeugt.
Sollte das Militär, das im Prinzip seit 1952 an der Macht ist, weiter diese Rolle einnehmen, werde es zu einer „zweiten Revolution“ kommen, ist die Aktivistin Abdel Fattah überzeugt: „Ich bin besorgt über die unklare Rolle des Militärrats.“ Sie fordert einen systematischen Prozess für den Wandel und den Aufbau von Institutionen. „Wir können schließlich nicht jedes Jahr eine Revolution haben.“
Meinungsfreiheit endet beim Militär
Demonstrationen sind zwar weiterhin verboten, werden aber toleriert. Die Zurückhaltung der Streitkräfte während der Revolution hatte ihnen noch Sympathie in der Bevölkerung gebracht. Angesichts von Foltervorwürfen und zunehmender Kritik in den vergangenen Wochen verspielte das Militär diesen Vertrauensbonus aber etwas.
Sie sei nun zwar freier geworden, zu schreiben und ihre Meinung zu sagen, aber Kritik am Militär lasse der Militärrat weiterhin nicht gelten, sagt Abdel Fattah. Wer das dennoch tut, werde vorgeladen. Auch gegen Richter, die in Interviews Kritik an Prozessen gegen Zivilisten vor Militärgerichten geübt hatten, wurden Medienberichten zufolge Ermittlungen eingeleitet - mit der Begründung, dass diese nicht mit Medien hätten sprechen dürfen. Ägyptischen Menschenrechtsgruppen zufolge wurden seit der Machtübernahme der Armee nach dem Sturz von Mubarak Tausende vor Militärgerichten verurteilt.
Auch bei der Beteiligung von Frauen am politischen Prozess nach der Revolution sieht Abdel Fattah noch Nachholbedarf. Auf dem Tahrir-Platz spielten Frauen eine wichtige Rolle, mittlerweile seien in den politischen Gremien kaum Frauen vertreten, kritisiert die Aktivistin energisch.
Privatsektor spielt wichtige Rolle
Unbestritten ist, dass Ägypten mit enormen wirtschaftlichen Problemen kämpft. Knapp ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit unter den Jungen liegt bei rund 30 Prozent, die wichtige Einkommensquelle Tourismus ist eingebrochen. Aber es gebe bereits seit Jahrzehnten bestehende, wenn auch schwache Institutionen wie Gewerkschaften und Universitäten auf die man aufbauen könne, betonte Osman.
Er hält vor allem die Entwicklung des Privatsektors zum größten Arbeitgeber für entscheidend. Zwar kontrollieren dem Mubarak-Regime nahestehende Personen und Firmen weite Teile des Kapitalmarkts, aber 70 Prozent des BIP würden von Klein- und Mittelunternehmen erwirtschaftet, so Osman - für ihn ein wichtiger Faktor für den Aufbau von Demokratie.
Herausforderung Religion
Eine der größten Herausforderung sieht Osman allerdings in der zunehmenden religiösen Identität der Ägypter. Der vor Jahrzehnten noch wichtige Nationalismus und das Zugehörigkeitsgefühl zu Ägypten verlören zugunsten der Religion an Einfluss: „Es ist ein Unterschied, ob man sich in erster Linie als Ägypter oder als Christ oder Muslim fühlt.“ Der Fortschritt der Revolution von 2011 sei auch darauf zurückzuführen, dass sie sich selbst an der ägyptischen Identität orientierte - ohne Bezug auf religiöse Verbindungen zu nehmen.
Simone Leonhartsberger, ORF.at
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