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Biografien wie Krimis

Okay, es geht um alte Männer - aber mit bewegten Leben, die von Anarchie, Dichtung, Kunst, Wahnsinn und Liebe alles bieten, was gute Literatur braucht: Biografien bzw. Briefe von Freud, Dylan, Frisch und Kleist. Dazu Empörenswertes und Erinnernswertes aus der Politik. Und: ein Eheplädoyer der anderen Art.

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Die Flucht, der Verrat

Die Reporterin Heike Otto recherchierte eine wahre Begebenheit aus der DDR akribisch nach. Drei Männer flohen in den Westen und ließen wie besprochen ihre Frauen zunächst zurück. Einer der Männer kehrte jedoch freiwillig kurz darauf zurück, weil er Sehnsucht nach seiner Frau hatte. Die drei Frauen kommen in Untersuchungshaft - und eine von ihnen wird schließlich dem Druck der Stasi-Verhöre nicht standhalten. Ein packendes Stück Zeitgeschichte, erzählt in all seiner Vielschichtigkeit. Auch die Guten waren nicht immer nur gut.

Heike Otto: Beim Leben meiner Enkel. Wie eine DDR-Flucht zum Familiendrama wurde. Hoffmann und Campe, 219 Seiten, 20,60 Euro.

Buchcover: Markus Frenzel "Leichen im Keller", Heike Otto "Beim Leben meiner Enkel"; Hannelore Schlaffer "Die interlektuelle Ehe", und Siegmund Freud "So mein, wie ich mir's denke"

ORF.at/Doris Rauh

Wie Deutschland Diktatoren unterstützt

Deutschland bekennt sich zu den Menschenrechten - und dennoch ist es möglich, dass immer wieder undemokratische Regime Einzelpersonen von der Bundeswehr ausbilden lassen und dass Diktatoren oder ihre Handlanger, auch wenn sie international gesucht werden, von Deutschland aus unbehelligt agieren können. Der Journalist Markus Frenzel hat seine jahrelangen Recherchen in einem spannenden Buch zusammengefasst. Netzwerke werden aufgedeckt, Dokumente veröffentlicht. Dennoch passiert, außer in Ausnahmefällen, nichts. In dem Buch lernt man über Diktaturen genauso viel wie über westliche Demokratien, die es sich im profitablen bilateralen Wirrwarr gemütlich gemacht haben und die Folgen ignorieren.

Markus Frenzel: Leichen im Keller. dtv premium, 434 Seiten, 15,40 Euro.

Ehe anders führen

Hannelore Schlaffer zeigt auf, welche Paare in der Geistesgeschichte der letzten hundert Jahre Pionierarbeit auf dem Feld der experimentellen Eheführung geleistet haben - und was man daraus für eine Zeit lernen kann, in der scheinbar alle Möglichkeiten allen Paaren offenstehen. Über ihre Begeisterung für manche Beziehungen mag man sich wundern. Was etwa an jener zwischen Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir großartig sein soll, ist unklar - de Beauvoir war eindeutig die unglückliche Verliererin (was viele Quellen belegen). Aber dennoch: Der Kampf um Individualität und gleichzeitig Gemeinsamkeit zeichnet diese Paare aus. Ein unterhaltsames, streitbares, gelehrtes Buch.

Hannelore Schlaffer: Die intellektuelle Ehe. Der Plan vom Leben als Paar. Hanser, 224 Seiten, 19,50 Euro.

Der entblößte Freud

Sigmund Freud hat als 26-Jähriger die fünf Jahre jüngere Martha Bernays kennen- und lieben gelernt. Aus der Zeit nach ihrer Begegnung sind Schreiben überliefert. Schon nach zwei Monaten verlobten sie sich heimlich, dann folgten bis zur Hochzeit Jahre der räumlichen Trennung. Der spätere Vater der Psychoanalyse musste in seinen Briefen flirten, bezirzen und Komplimente machen, damit ihm seine Braut nicht doch noch davonlief - vor allem auch, weil er sich zwischendurch als ein vor Eifersucht kranker Griesgram gab. Nun wurde der Briefwechsel erstmals vollständig veröffentlicht: unterhaltsam, richtiggehend lustig, lehrreich - Freud entblößt.

Sigmund Freud, Martha Bernays: Sei mein, wie ich mir’s denke. Die Brautbriefe. Band I. S. Fischer, 625 Seiten, 49,40 Euro.

Unwirkliches Tschernobyl in Bildern

Während in Japan die Ausmaße der Reaktorkatastrophe noch kaum zu ermessen waren, wurde in Tschernobyl des Atomunfalls im Jahr 1986 gedacht. Ein Fotograf reiste mehrmals in die Sperrzone rund um den Reaktor und fand dort eine Gegend vor, die sich die Natur vom Menschen zurückerobert hat. Inmitten der verwucherten Orte und Städte leben aber auch einige Menschen, die man nicht davon abhalten konnte, zurückzukehren. Nun ist ein Bildband mit Fotos von ihnen erschienen. Unwirklich, schaurig - und doch real für alle, die dort leben.

Rüdiger Lubricht: Verlorene Orte. Gebrochene Biografien. Fotografien. 120 Seiten, 32,90 Euro.

Buchcover: Bob Dylan, Susanne Scholl "Allein zu Hause", Merle Hilbk "Tschernobyl Baby"

ORF.at/Doris Rauh

„Die haben uns alle betrogen“

Derselben Thematik, der Region rund um den Reaktor und jenen, die dort geblieben oder zurückgekehrt sind, widmete sich auch Merle Hilbk in ihrer Reportage „Tschernobyl Baby. Wie wir lernten, das Atom zu lieben“. Auch in ihrem Buch sind Schwarz-Weiß-Fotos, allerdings kleinformatig, zu sehen. Im Vordergrund stehen jedoch die Gespräche mit den Menschen in der Region, die Überlebenskünstler im Wortsinn sind. Gemeinsam ist ihnen die bittere Erkenntnis: „Die haben uns alle betrogen.“ Und dennoch ist das Buch mitunter lustig - schließlich ist das Leben vor allem der jungen Menschen in der Region nicht von 24 Stunden Leiden geprägt. Schön das Zitat in der Kapitelüberschrift - „Im Zweifel für den Zweifel“.

Merle Hilbk: Tschernobyl Baby. Wie wir lernten, das Atom zu lieben. Eichborn, 276 Seiten, 18,50 Euro.

Kulturschock im Asyltraumland

Susanne Scholl, ihres Zeichens ehemalige Russland-Korrespondentin des ORF, hat im Rahmen ihrer Tätigkeit viel an Leid miterlebt - vor allem in Tschetschenien. Zurückgekehrt nach Österreich sieht sie, was Flüchtlinge aus Krisengebieten hierzulande erwartet: die Asylmisere. Über diesen Kulturschock schrieb sie das Buch „Allein zu Hause“. Mehrere Fälle, die in den Medien nur kurz auftauchten, verfolgte sie ausführlich über Monate hinweg. Ihr Kommentar zum Asylwesen hat Gewicht. Sie war lange genug dort, wo „die“ herkommen.

Susanne Scholl: Allein zu Hause. Ecowin, 171 Seiten, 21,90 Euro.

Ein Leben als Dylan-Fan im Schnelldurchlauf

Dylan feierte heuer seinen 70. Geburtstag - und die Verlagsbranche feierte heftig mit. Man könnte sich dem Phänomen Robert Zimmerman folgendermaßen annähern. Zuerst die schlanke rororo-monographie von Tino Marworth lesen, zum Erinnern und um das Folgende richtig einordnen zu können. Dann noch tiefer in den Mythos eintauchen mit dem Oberdylanologen Greil Marcus und seinem Buch über die legendären Basement Tapes - „Basement Blues. Bob Dylan und das alte, unheimliche Amerika“ (dazu die CD hören). Und dann, am Ende, die Dekonstruktion samt Auferstehung mit einer von Klaus Theweleit zusammengestellten Textsammlung über Dylan - „how does it feel. Das Bob-Dylan-Lesebuch“. Dann hat man (Unterstützung holen durch YouTube-Videos!) alle Phasen eines Lebens als Dylan-Fan im Schnelldurchlauf absolviert.

Greil Marcus: Basement Blues. Bob Dylan und das alte, unheimliche Amerika. Rogner & Bernhard, 286 Seiten, 14,90 Euro.

Tino Markworth: Bob Dylan. rororo monographie, 158 Seiten, 9,30 Euro.

Klaus Theweleit (Hrsg.): how does it feel. Das Bob-Dylan-Lesebuch. 302 Seiten, 20,60 Euro.

Achterbahnfahrt durch die Musikszenen

Eine Achterbahnfahrt von theoretischen Analysen und empirischen Studien quer durch alle popkulturellen Genres unternimmt der von Rosa Reitsamer und Wolfgang Fichna herausgegebene Sammelband „They Say I’m Different ...“. Bestandsaufnahmen von Wiener DJ-Karrieren und Analysen von Musikszenen von Beirut über New Jersey bis hin zu Tansania zeigen Pop im Spannungsfeld zwischen Lokalkolorit und Globalisierung. Insbesondere der Wechselwirkung zwischen Musikszenen und der Entwicklung urbaner Räume widmet sich der Band ausführlich. Der australische Soziologe Andy Bennett schließlich rechnet in seinem Aufsatz mit der überholten Gleichsetzung von Jugend und Pop ab und nimmt dabei alternde Musikfans unter die Lupe. „They Say I’m Different ...“ ist nicht der seit einigen Jahren überfällige große neue Wurf in Sachen Poptheorie. Die ausgewählten Schlaglichter bieten aber einen soliden Einblick in neuere Entwicklungen.

Rosa Reitsamer, Wolfgang Fichna (Hrsg.): „They Say I’m Different ...“ Popularmusik, Szenen und ihre Akteur_innen. Löcker, 323 Seiten, 22 Euro.

Alles fürs „Homo faber“-Referat

Apropos geballte Ladung: Gymnasiasten aufgepasst, beim nächsten Max-Frisch-Referat könnt ihr die „Professorin“ oder den „Professor“ gewaltig mit folgendem Package beeindrucken: für den Beamer die Bilder aus dem Bildband „Max Frisch. Sein Leben in Bildern und Texten“ abfotografieren. Für den schnellen ersten Überblick die rororo-Monographie (die sind überhaupt immer ihren geringen Preis mehr als wert) lesen. Dann mit einem Exkurs über Frischs junge Jahre überraschen - mit Hilfe von „Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs“. Und das alles im saloppen, aber nicht dummen Stil von „Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher“. Mehr Max Frisch geht nicht - nicht in Sachen Sekundärliteratur.

Volker Hage: Max Frisch. rororo monographie, 160 Seiten, 9,30 Euro.

Volker Weidermann: Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher. Kiepenheuer & Witsch, 407 Seiten, 23,60 Euro.

Julian Schütt: Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs. Suhrkamp, 592 Seiten, 25,60 Euro.

Volker Hage (Hrsg.): Max Frisch. Sein Leben in Bildern und Texten. Herausgegeben von Volker Hage. Suhrkamp, 259 Seiten, 25,60 Euro.

Büchercover: Max Frisch und Kleist

ORF.at/Doris Rauh

Kleist verstehen, Kleist erleben

Und noch ein Gedenktag im Jahr der Jubiläen: Am 18. Oktober vor 200 Jahren starb Heinrich von Kleist. Anna Maria Carpi hat eine Biografie geschrieben, in der sie sich zwar an die Quellen und Fakten hält, sie fabuliert aber Begegnungen dazu und lässt mitunter Kleist selbst über sich sprechen, als ob er heute unter uns wäre - eine Art kurzweilige Romanbiografie. Peter Michalzik, Journalist bei der „Frankfurter Rundschau“, hat hingegen eine ausladende, klassische Biografie verfasst. Kleist, die Frauen, der Exzess, die Dichtung.

Anna Maria Carpi: Kleist. Ein Leben. Insel, 478 Seiten, 25,60 Euro.

Peter Michalzik: Kleist. Dichter, Krieger, Seelensucher. Propyläen, 557 Seiten.

Simon Hadler, Christian Körber, ORF.at

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