Anlauf für Verfassungsänderung
Spannend ist nur das Ausmaß des Sieges: Allen Umfragen zufolge wird die islamistisch-konservative AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan als klarer Sieger der Parlamentswahl am Sonntag in der Türkei hervorgehen. Fällt der Sieg sehr hoch aus, könnte das weitreichende Folgen haben: Mit einer neuen Verfassung stünde das politische System der Türkei vor einem kompletten Wandel und Erdogan womöglich vor noch höheren politischen Weichen.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Die Meinungsforscher gehen davon aus, dass Erdogans seit 2002 regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) am Sonntag zwischen 45 und 50 Prozent der Stimmen erhalten wird. Bei der letzten Wahl 2007 kam sie auf 47 Prozent.

Reuters/Osman Orsal
Erdogan wird wohl auch die nächste türkische Regierung anführen.
Präsidentenamt im Auge?
Sollte die AKP es sogar schaffen, eine Zweidrittelmehrheit von mindestens 367 Sitzen zu ergattern, könnte sie die Verfassung quasi im Alleingang schreiben und beschließen. Sollte die AKP dieses Ziel verfehlen, aber bei mehr als 330 Mandaten landen, könnte sie die Verfassung zwar nicht sofort vom Parlament verabschieden lassen, den Text aber bei einer Volksabstimmung vorlegen. Erdogan und andere AKP-Politiker betonen, sie strebten eine parteiübergreifende Einigung an, doch Kritiker hegen den Verdacht, dass der Ministerpräsident andere Pläne hat.
Der 57-Jährige sprach sich mehrmals für die Einführung eines Präsidialsystems nach französischem oder US-amerikanischem Vorbild aus. Ein Präsidialsystem erlaube der Türkei ein schnelleres Tempo der Entwicklung ohne Blockaden, erklärte er schon im vergangenen Jahr. Gleichzeitig kündigte Erdogan an, die neue Legislaturperiode werde seine letzte als Parlamentsabgeordneter sein. Das lässt seine Gegner vermuten, Erdogan wolle sich zum ersten Präsidenten der neuen Verfassung wählen lassen - mehr dazu in oe1.ORF.at.
Wirtschaftsboom als Wahlwerbung
Die Stärke der AKP fußt zum Großteil am wirtschaftlichen Aufschwung des Landes: Seit ihrem Regierungsantritt 2002 hat sich das Volumen der türkischen Wirtschaft verdreifacht, der frühere Hungerleider am Rande Europas ist heute Mitglied der G-20.

APA/EPA/Tolga Bozoglu
AKP-Anhängerinnen bei einer Veranstaltung der Partei
Und der Aufschwung soll weitergehen: In Istanbul will Erdogan zwei neue, erdbebensichere Vorstädte und einen Kanal zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmarameer bauen. Dieser soll den Bosporus entlasten. Der Hauptstadt Ankara will er ein neues Gesicht verpassen, er stellte Pläne für neue Autobahnen, einen neuen Flughafen und ein neues Fußballstadion für die kurdische Großstadt Dijarbakir vor. Zudem sollen praktisch zinsfreie Kredite Geschäftsleuten Investitionen und Familien den Kauf von Häusern möglich machen.
Herausforderer wohl zu schwach
An der brummenden Wirtschaft beißen sich auch Erdogans Gegner die Zähne aus. Zweitstärkste Partei ist die säkularistische und am ehesten mit sozialdemokratischen Fraktionen zu vergleichende CHP, die sich Umfragen zufolge auf ein Ergebnis zwischen 25 und 30 Prozent zubewegt. Parteichef Kemal Kilicdaroglu, der ob seiner Brille den Spitznamen „Ghandi“ trägt, agiert zwar besonnen, kann aber dem Volkstribun Erdogan mit den Themen Korruption, Arbeitslosigkeit und Freiheitsrechte nicht genug entgegensetzen - auch wenn er im Wahlkampf scharf agierte und Erdogan empfahl, er solle sich auf Geisteskrankheit untersuchen lassen.
Kilicdaroglu kündigte an, er werde dem Ministerpräsidenten „die Zähne ziehen“. Erdogan nannte Kilicdaroglu im Gegenzug schmutzig, unmoralisch und einen Halunken - mehr dazu in oe1.ORF.at.
Nationalisten in der Sexfalle
Die rechtsgerichtete MHP kann nur mit zwölf bis 15 Prozent rechnen, nachdem mehrere ihrer Politiker beim Sex mit Geliebten gefilmt und mit den im Internet verbreiteten Aufnahmen zum Rücktritt gezwungen wurden. Womöglich muss die MHP sogar um ihren Wiedereinzug ins Parlament bangen, da sie in letzten Umfragen nur knapp über der Zehnprozenthürde liegt.
Als allerdings Gerüchte laut wurden, die AKP könnte hinter den Sexfallen stecken, musste Erdogan energisch dementieren. Ob ihm das abgenommen wird, ist aber fraglich, schließlich hatte er im Wahlkampf die nationalistische MHP scharf angegriffen. So blieb bis zuletzt unklar, wem der Skandal tatsächlich schadet.
Kurdenpartei mit Einzelkandidaten
Es bleibt noch die Kurdenpartei BDP (Partei für Frieden und Demokratie), die mit nominell unabhängigen Kandidaten antritt, um die Zehnprozenthürde für den Einzug zu umgehen. Wahlforscher gehen von bis zu 30 BDP-Abgeordneten aus, die per Direktmandat ins Parlament einrücken könnten. Gute Chancen auf einen dieser Sitze hat der syrisch-orthodoxe Ostanatole Erol Dora, ein 47-jähriger Rechtsanwalt. Als unabhängiger Kandidat könnte er als erster Christ seit dem Militärputsch von 1960 ins türkische Parlament einziehen.
EU-Beitritt kaum ein Thema
Bis zum Wahlkampffinish fehlte ein Thema fast völlig in der Debatte: Der angestrebte EU-Beitritt kam nach den Zurückweisungen durch die Union kaum vor. Mit dem Selbstbewusstsein einer neuen Wirtschaftsmacht ist der Beitritt mittlerweile weniger drängend. „Wir schauen uns anderswo um“, sagte etwa Wirtschaftsminister Ali Babacan.
Ganz vergessen ist das Projekt aber nicht. Erdogan kündigte wenige Tage vor der Wahl an, die EU-Bewerbung seines Landes mit einem eigenen Ministerium aufwerten zu wollen. Das EU-Ministerium werde zum neuen Kabinett der Türkei nach der Wahl gehören.
Bisher wird die türkische EU-Kandidatur von einem Verhandlungsführer mit Ministerrang koordiniert, doch verfügt Amtsinhaber und Erdogan-Berater Egemen Bagis derzeit über kein eigenes Ministerium.
Links: