Der Einsatz hat gestimmt
Der Song Contest 2011 war kurz nach Mitternacht entschieden. Ell und Nikki überzeugten die Jurys und die Voter mit ihrem Beitrag „Running Scared“ für Aserbaidschan. Nadine Beiler lag zunächst in den Votings weit zurück - holte dann aber etwas auf und lag schließlich auf Platz 18 von 25. Lena erreichte für Deutschland den 10. Rang.
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Aserbaidschan ließ Ell und Nikki mit einer Mischung aus Enya und Moloko auftreten. Lächeln, verliebte Blicke, er hatte einen weißen Anzug an, sie ein weißes Kostümchen. Die Unschuld darf sich lieben, wenn die Liebe der beiden unschuldig ist - so oder so ähnlich lautete die Bildsprache des Beitrags. So hörte sich auch der Song an. Offenbar ist Romantik das Gebot der Stunde.
Das Gesangspaar setzte sich in einem spannenden Herzschlagfinale erst sehr spät mit zuletzt 221 Punkten vor Italien (189) und Schweden (185) durch. Nach ihrem Sieg zeigte sich das Duo überwältigt - mehr dazu in iptv.ORF.at.

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Ell und Nikki auf der Bühne
Beiler musste zittern
Für Beiler sah es zunächst nicht allzu gut aus - trotz zwölf Punkten von Deutschland und sieben von der Schweiz und Bosnien und Herzegowina. Sie behauptete sich später aber im hinteren Mittelfeld. Die ersten fünf Punkte für Österreich kamen von Bulgarien, fünf von Slowenien, dann vier von Schweden, später drei von Armenien, Kroatien und der Slowakei, mehrere Länder gaben Österreich ein oder zwei Punkte.

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Nadine Beilers großer Auftritt
Zuvor hatte die Tirolerin um 22.30 Uhr die Bühne betreten und ihr Lied „The Secret is Love“ gewohnt makellos gesungen. Den Song und ihren Auftritt im Halbfinale hatte der „Spiegel“ „Bausparer-Soul“ genannt. Der Bodennebel war diesmal besonders blau, Beiler sang mit besonders viel Inbrunst. Am Donnerstagabend hatte sie sich jedoch mehr bewegt, die Performance am Samstag war statischer. Vielleicht war Beiler doch nervös geworden - noch wenige Stunden vor dem Auftritt beteuerte sie, ganz ruhig zu sein. Das Publikum jubelte jedenfalls nach ihrem Auftritt.
Kunstwind im Einsatz
Bei den anderen Beiträgen galt, was immer beim Song Contest gilt: Es gibt wenige Überraschungen, aber viel zu staunen. Georgiens Sängerin Eldrine („One More Day“) etwa wirkte, als hätte sie ihren Auftritt auf dem Set von „Tron 2.0“ eingeübt. Bei einem aggressiven Song sollte man vielleicht besser nicht lächeln. Die Nummer kam druckvoll daher. Der künstliche Wind wehte, die Haare flogen im Wind.
Nina sang „Caroban“ für Serbien mit vier Background-Sängerinnen, alle in einem feinen Retro-Outfit. Die Nummer ist flott und poppig, hat aber selbst für Song-Contest-Verhältnisse zu wenige Ecken und Kanten.
Sand im Getriebe
Lucia Perez trat für Spanien mit „Que Me Quiten Lo Bailao“ auf. Sie setzte mit ihren Sängern auf gute Laune. Wer Spanisch spricht, weiß, worüber sie gesungen hat. Alle anderen werden annehmen, dass sie von einem Mädchen erzählt, das am Strand promeniert und dabei Ball spielt und flirtet. Der Song ist flüchtig und könnte rasch vergessen werden.
Die Ukraine schickte die weiß gekleidete, mit angedeuteten Flügeln versehene Mika Newton mit dem Lied „Angel“ auf die Bühne in Düsseldorf. Wie schon im Halbfinale stand auch diesmal die Hintergrundprojektion im Vordergrund. Die Sandkünstlerin Xenija Simonowa formte live Sand zu Kunstwerken. Den Song nahm man kaum wahr.
Kein Funkenflug
Island hätte mit Sjonni auftreten sollen, der jedoch einen Monat vor dem Song Contest im Alter von nur 36 Jahren an einem Herzinfarkt verstarb. Deshalb traten seine Freunde als „Sjonni’s Friends“ mit seinem Song „Coming Home“ an; ein bewegender Moment für die Band. Sie absolvierte den Swing-Auftritt dennoch souverän.
In Slowenien wurde sie durch eine Castingshow bekannt, und auch der Song Contest ist im Grunde nichts anderes: Vielleicht wirkte Maja Keuc deshalb so routiniert mit ihrem rockig-souligen Popsong. Es tat sich allerdings vergleichsweise wenig auf der Bühne. Man konnte keinen eindeutigen Fehler ausmachen, die Stimme ist gut - aber der Funke schien nicht überzuspringen.
Obligatorisches Zwinkern
Rumänien schickte Hotel FM ins Rennen, der Sänger trat mit Nadelstreifhose und Glitzergilet auf und sang zu Klaviertönen. Der Song macht Tempo, viel mehr lässt sich nicht über ihn sagen. Heuer zwinkerten übrigens viele der männlichen Kandidaten den erhofften Verehrerinnen und Verehrern vor den Telefonen zu, das sollte wohl kumpelhaft und zugleich sexy wirken. Statt der Mehrwertnummern mit „Ruf mich an“-Gestöhne hier also „SMS für mich“-Gezwinkere.
Lena, verrucht
Lena, was soll man über Lena sagen. Grandios war zuletzt ihr Auftritt bei Frank Elstner, den sie ganz offensichtlich nicht mag. Aber am Samstagabend galt es ganz unzickig die Telefon-Voter für den deutschen Beitrag zu überzeugen. Ihr Lied „Taken By A Stranger“ sollte geheimnis- und spannungsvoll ankommen. Bis zuletzt blieb die Frage offen, ob ihr die Lena-Mania von 2010 heuer etwas bringen sollte. Der frenetische Jubel des Publikums war ihr jedenfalls sicher - ein Heimspiel auf einer deutschen Bühne. Es wurde dann der passable 10. Platz.
Die Zauberhüte aus Moldawien hatten wie im Halbfinale auch diesmal die Lacher auf ihrer Seite. Der Song „So Lucky“ von Zdob si Zdub beginnt mit einer Beastie-Boys-artigen Einlage und entwickelt sich über Rock und Pop zu Ska und Turbofolk - hektisch, chaotisch, aber nicht gänzlich humorfrei.
Von der Boy- zur Postpubertären-Group
Wie nennt man eine Boygroup, die in die Jahre gekommen ist - Postpubertären-Group? Die britische BBC hat ohne Voting entschieden und Blue mit „I Can“ nach Düsseldorf geschickt. Der Song wirkt frisch, so wie heute eben Boygroup-Songs aus den späten 80er Jahren wirken.
Die Schweizerin Anna Rossinelli passte nicht recht zum Song Contest. Ihr Auftritt war gänzlich unpeinlich, das Lied nett und sie biederte sich an keinen Massengeschmack an und wirkte sympathisch; ein bisschen zu brav vielleicht. Beim großen Eurovision-Preis - chancenlos.
„Die drei Rock-Tenöre“ solo
Raphael Gualazzi machte mit „Madness Of Love“ gute Laune im Namen Italiens. Er swingte schwungvoll mit dem Klavier. Wenigen Beiträgen beim Song Contest kann man das ehrliche Kompliment machen, dass sie ohne zu stören im Hintergrund laufen können. Gualazzi schafft das Kunststück mit seiner unaufdringlichen Variante von easy listening. Die Jury und das Publikum wissen das zu schätzen und wählen Gualazzi auf Platz zwei.
Mit einer Operneinlage auf Korsisch wagte sich Amaury Vassili für Frankreich in den Ring. Er hat langes Haar vom Typ „Die drei Rock-Tenöre“. Vassili legte sich ordentlich ins Zeug, sein ernsthafter Einsatz hätte durch ein paar Punkte mehr gewürdigt werden sollen.
Bemerkenswert unscheinbar
Das Lied „Get You“ des Russen Alexey Vorobyovs stach vor allem durch seine außerordentliche Unscheinbarkeit hervor. Es gab einen Rhythmus. Es gab einen Mann. Es gab einen Song, dessen Arrangement eher karg war. Tänzer tanzten.
Auf maximale Dramatik setzte hingegen der griechische Beitrag, „Watch My Dance“ von Loukas Yiorkas feat. Stereo Mike. An diesem Abend kam niemand so nah an eine Parodie seiner selbst heran wie die beiden jungen Männer. Der Rapper erinnerte an alte Erkan-und-Stefan-Shows und sang über die Liebe, der Sänger durchlitt irgendetwas, sein Text war auf Griechisch. Noch theatralischer kann man nicht mit den Händen fuchteln.
Irische Knallbonbons
Der Schwede Eric Saade will mit seinem eintönigen Song „Popular“ den Durchbruch schaffen. Die rote Lederjacke passt zum Wunsch des Schönlings - und er hielt sich schließlich wacker. Der Sieg wurde es nicht - aber Dabeisein ist alles. Die Estin Getter Jaani trat wie im Halbfinale mit ihrer gutgelaunten 50er-Jahre-Show auf. Ihr Lied macht Stimmung. Aber welche?
Über Jedward aus Irland wurde bereits viel berichtet, sie zählten zu den Favoriten mit ihrem groovigen Song „Lipstick“ und ihrem lustig gemeinten Auftritt in Rot. Wie in der Vorrunde würden die zwei Burschen auch diesmal von der knallig-psychodelischen Hintergrundprojektion erschlagen, wären sie selbst mit ihren Föhn-Taft-Haarwundern und ihrem exzentrischen Tanz nicht noch knalliger. Auch der treibende Rhythmus knallt. Man könnte von einer überzeugenden Knallbonbon-Performance sprechen.
Schmachtblick und Stampfe
Schmachtblick in die Kamera - Kati Wolf aus Ungarn hatte ihren Auftritt. Jennifer Rush hat eine würdige Nachfolgerin (blond statt dunkel), die den unvergleichlichen Sound der 80er-Jahre-Diva gekonnt mit Techno-Drumcomputer-Stampfe in die Schlagerwelt von heute transferiert; irgendwie - zeitlos; der Song Contest, wie er leibt und lebt.
Evelina Sasenko aus Litauen könnte Text und Melodie ihres Liedes „C’est Ma Vie“ von einem Computer mit einem Zufallsgenerator erstellt lassen haben, der von Barbara-Streisand- und Edith-Piaf-Songs gespeist wird. „Wir werden zusammen eins sein“, sang sie - und Ähnliches; stimmungsvoll, aber altbacken. Sie übersetzte während des Singens simultan in Gebärdensprache.
Lieb und blond
Dino Merlin aus Bosnien-Herzegowina mit „Love In Rewind“ und A Friend in London aus der Dänemark mit „New Tomorrow“ sind österreichischen Song-Contest-Fans (oder unfreiwillig Süchtigen) bereits aus jener Halbfinalrunde bekannt, in der sich Nadine Beiler behaupten konnte. Der 48-jährige Merlin war wieder nett und freundlich, der Song der Dänen ist auch beim zweiten Mal Hören okay, spannungsvoll im Mittelteil, mit Happysound im Refrain.
Paradise Oskar war lieb mit seinem unschuldigen Gesicht und seinen blonden Haaren. Schlimmes wäre zu erwarten gewesen, aber eigentlich ist der Song „Da Da Dam“ des Finnen nicht ganz so naiv, wie es bei halbherzigem Zuhören den Anschein hat. Es geht um den naiven Peter, der über die Rettung der Welt tagträumt. Als Musik muss Singer-Songwriter-Geschrammel in Dur genügen. Paradise Oskar hielt sich wacker. Kann sein, dass er doch alles ernst meinte, was er sang. Er wirkte so seriös bei seinem Auftritt - bis zum breiten Lächeln am Schluss.
Fremdschämen mit Engelke und Raab
Lebhafte Debatten gab es während der letzten Jahre über den Neologismus „Fremdschämen“. Am Samstagabend gab es als Kommentar dazu die Eröffnungssequenz des Song Contests. Anke Engelke, eine der Moderatorinnen des Abends, wirbelte ihren Pony im Kreis und schlug damit Stefan Raab, den anderen Moderator - und sie hörte damit nicht auf, bis dieser sagte: „Anke, das ist eine ernste Show.“ Dann lief Raab auf die Bühne und lieferte eine hektische Version von Lenas Vorjahressiegessong. Lena trat auch kurz auf. Raab wirkte übrigens zunächst höchst nervös, beim Moderieren und beim Singen - so kennt man ihn kaum.
Im Lauf der Show liefen aber sowohl Engelke als auch Raab zu besserer Form auf. Sie spricht schön und kann strahlend in die Kamera lächeln, er spielte die Eurovision auf der E-Gitarre in „Star Spangled Banner“-Manier. Am Ende waren beide rehabilitiert. Insgesamt handelte es sich um eine recht solide Ausgabe des Song Contest. Man darf sich auf nächstes Jahr freuen, wenn die Show in Aserbaidschan stattfindet.
Simon Hadler, ORF.at
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