Dokument einer Analyse
Unter den zahlreichen Neuerscheinungen zu Sigmund Freuds 150. Geburtstag vor fünf Jahren hat sich eine wissenschaftliche Sensation befunden, die auf einem spektakulären Nachlass beruht. Der Band „Freuds Analyse“ enthält die einzigen überlieferten fortlaufenden Protokolle von Sitzungen einer (fast) gesamten Analyse.
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Bis dahin gab es nur Freuds eigene Aufzeichnungen, die aber eher künstlerisch verfremdete Novellen sind, und Schilderungen einzelner Sitzungen, nicht aber eine ganze Analyse. Der spätere Psychiater und Psychoanalytiker Ernst Blum hatte akribisch den Verlauf seiner Sitzungen bei Freud im Jahr 1922 mit dessen Einverständnis festgehalten. Es handelte sich dabei um die Lehranalyse Blums, die mit 75 Stunden selbst für damalige Zeiten äußerst kurz bemessen war.
Leser sitzt mit auf der Couch
Von Rowohlt wurden diese Protokolle, von Blum einst freigegeben und später von Manfred Pohlen editiert und kommentiert, erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Leser sitzt mit auf der Couch und kann staunend beobachten, wie Freud das Verhalten, die Erzählungen und die Träume seines Klienten analysiert. Herausgeber Pohlen lässt dabei nicht nur Blums Schilderung der Sitzungen Raum. Mindestens ebenso aufschlussreich sind Aufzeichnungen über das Vorleben Blums und seine damals aktuelle Situation.
Die Ausgangssituation: Blum ist verlobt, steigt aber in schwachen Stunden den „Vorstadtmädeln“ nach (man denke an die Theaterstücke des von Freud verehrten Arthur Schnitzler). Probleme machen ihm sein übermächtiger Vater („Ödipuskomplex“) und die in Ansätzen inzestuöse Liebe zu Mutter und Schwester. Und obwohl sich der werdende Psychoanalytiker aufgeschlossen gibt, macht ihm die promiskuitive Vergangenheit seiner Braut zu schaffen.
Freud analysiert
Meist überlässt Freud seinem Klienten selbst das Feld für Interpretationen und steuert nur sparsame Kommentare oder Vergleiche aus der Kunst- und Kulturgeschichte bei - und natürlich die für Freud charakteristischen Witze. Aber von Zeit zu Zeit übernimmt der Analytiker doch selbst das Ruder. Mit seinen seltenen, dann aber orthodoxen analytischen Interpretationen wirkt Freud aus heutiger Sicht fast schon wie die Karikatur eines Psychoanalytikers.
Das lässt sich am Beispiel des Höhlentraums zeigen. Blum träumte, dass er mit einer Frau auf der Jagd ist. Die beiden ziehen sich in eine enge Höhle zurück. Eine weitere, große dicke Frau kommt hinzu, weshalb sich die erste ganz klein machen und mit Blum zusammenrücken muss. Plötzlich fährt ein Zug durch die Höhle, der aber keinen der Beteiligten verletzt.
Im Uterus der Mutter
Freuds und Blums gemeinsame Interpretation: Blum habe sich mit seiner Schwester in den Uterus der Mutter zurückgezogen, wo die Schwester von der Verlobten verdrängt worden sei. Dann hätten die drei gemeinsam einem Koitus der Eltern beigewohnt (Zug durch Höhle). Freud spricht von „einer der großartigsten und ursprünglichsten Phantasien“, man befinde sich im Mutterleib und habe Anteil an dem Koitus, vor allem Frauen würden oft davon träumen. Die Braut würde von Blum als Eindringling in diese familiäre Intimität begriffen.
Ödipus und Inzest
Der Vater als furcht- und respekteinflößende Leitfigur, die Mutter, die die Wärme ihres Uterus ein Leben lang zu spenden bereit ist, die innige, beinahe inzestuöse Liebe Blums zu ihr und zur Schwester - und dann kommt plötzlich eine Verlobte und stört das Gefüge, aus dem Blum erst lernen muss, sich zu befreien. In der Analyse, die Freud am Ende als geglückt ansieht (er attestiert Blum, nicht neurotisch zu sein), kommen alle großen Themen des Begründers der Psychoanalyse vor: der Ödipuskomplex und die Angst, aus einem Ensemble von angelernten Verhaltensweisen auszubrechen.
Abseits des Penisneids
Aber auch abseits orthodoxer psychoanalytischer Interpretationen findet sich in Blums Aufzeichnungen Material für die zahlreichen Debatten über Freud. Freud war ja beispielsweise ein verklemmtes, abwertendes Frauenbild vorgeworfen worden - Stichwort „Penisneid“. Die Kritik wird in diesem Punkt auch durch Blums Protokolle nicht widerlegt.
Aber wieder einmal wird dieses Bild durch Freuds Ablehnung bürgerlicher Moralvorstellungen in Bezug auf Sexualität ergänzt. So wirft er Blum im Zuge einer Sitzung vor, dass dieser seine Verlobte als Gebärmaschine sehe statt als Frau und ihr nachträglich das gute Recht absprechen wolle, in der Vergangenheit ein ausschweifendes Leben geführt zu haben.
Freuds Tochter Anna nachgestellt
An anderer Stelle wertet Blum seine Sitzungsprotokolle durch eine skurrile Anekdote auf. Freud dürfte mitbekommen haben, dass sich Blum bei einem Treffen für Freuds Tochter Anna interessiert hatte. Er bot sie ihm daraufhin während einer Sitzung zur Heirat an: „Ich habe nichts dagegen, wenn Sie meine Tochter heiraten wollen. Sie sind ein junger Mann mit guten Manieren, Sie sind Analytiker, Sie sind Schweizer, alles Eigenschaften, die mir gut gefallen.“
Buchhinweis
Manfred Pohlen: Freuds Analyse. Die Sitzungsprotokolle Ernst Blums. Rowohlt Taschenbuch, 416 Seiten, 13,40 Euro.
Offen bleibt, ob es Freud mit seinem Angebot tatsächlich ernst war oder ob es sich dabei lediglich um eine für die Therapie notwendige Finte gehandelt hatte. Denn Blum gibt zu, ein schlechtes Gewissen gehabt zu haben, weil er ein Auge auf die Tochter seines „Vaters“ Freud (das Phänomen der „Übertragung“) geworfen hatte - also in übertragenem Sinn auf seine eigene „Schwester“ (wieder taucht das Inzestmotiv auf). Blum hätte es wohl von sich aus nicht zur Sprache gebracht, was für die Analyse von entscheidendem Nachteil hätte sein können. Durch Freuds Angebot hatte sich die Sache rasch erledigt, Blum stellte weder Anna weiter nach noch musste er etwas vor Freud verheimlichen.
Kritische Kommentare
Ergänzt werden die Protokolle durch Pohlens Begleittexte und Kommentare. Pohlen, seinerseits emeritierter Direktor der Klinik für Psychotherapie der Philipps-Universität Marburg, ordnet die Analyse ein und kommentiert sie großteils euphorisch, mitunter aber auch kritisch. Bei Blum selbst wird an einigen Stellen nicht ganz klar, wer bei der Analyse gerade am Wort ist. Der Leser ist sich oft nicht sicher, ob er Blums Selbstanalyse oder Freuds Interpretationen vor sich hat.
Schließlich war Blum - er starb 1981 - selbst Analytiker, seine eigenen Gedanken sind deshalb vom psychonalytischen Vokabular genauso durchdrungen wie das, was Freud als Aussagen zugerechnet wird. Hier liefert der Verleger durch den Fettdruck am Beginn von gesicherten Freud-Aussagen an vielen Stellen einen wertvollen Beitrag zum besseren Verständnis der Protokolle.
Neuer, zentraler Referenzpunkt
Dessen ungeachtet sind Blums Analyseprotokolle neben Peter Gays monumentaler Biografie und Freuds eigenen Veröffentlichungen ein weiterer zentraler Referenzpunkt für alle, die sich ernsthaft mit dem „Vater der Psychoanalyse“ auseinandersetzen wollen. In den Feuilletons wurde das Buch dafür gefeiert, ein neues, intimeres Licht auf Freud geworfen zu haben. Die „Neue Zürcher Zeitung“ („NZZ“) etwa sah ein „lebendiges und anziehendes Bild von Freud als Analytiker“.
Der Analytiker habe „auf das Humanste“ seinen eigenen Regeln der Distanz widersprochen (siehe das Heiratsangebot). Blum selbst, restlos begeistert von Freud, nennt ihn in seinen Aufzeichnungen einen „verlässlichen, verständigen mütterlichen Wegbegleiter, keinen deutenden Wegweiser“.
Simon Hadler, ORF.at
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