Wie man in Österreich Kino macht
Im Gespräch mit ORF.at erzählt die Drehbuchautorin und Regisseurin über die Entstehung ihres Films „Die Vaterlosen“. Das Team wurde in dem kleinen Ort, in dem gedreht wurde, skeptisch beäugt. Wer dazugehören will, muss sich unterordnen - das gilt im Dorf genauso wie in der Kommune, wo der Zwang eben Freiheit lautet.
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ORF.at: Sie haben das Drehbuch geschrieben und Regie geführt. Eine Ausbildung haben Sie für beides?
Marie Kreutzer: Nein, nur für Drehbuch. Mein Professor hat immer gemeint: Wer ein Drehbuch schreiben kann, kann auch Regie führen. Das ist vielleicht ein bisschen frech. Die Regie, das war Learning by Doing.
ORF.at: Läuft Ihr Film auf eine Kernaussage hinaus, über das Leben, die Liebe, die Gesellschaft?
Kreutzer: Themen müssen sich bei mir zwischen Polen hin- und herbewegen. Mich interessieren Fragen mehr als Antworten. Wie funktioniert Familie? Wodurch entsteht ein Gefühl von Zugehörigkeit? Der Film soll verschieden gelesen werden können.
ORF.at/Simon Hadler
Marie Kreutzer beim Interview im Wiener Cafe Jelinek
ORF.at: Wie funktioniert Familie? Wie funktioniert Zugehörigkeit?
Kreutzer: Familie ist deshalb ein so unerschöpfliches Thema für Geschichten, weil der Umgang mit ihr so kompliziert ist. Es gibt da keine einfachen Antworten. Ich werde immer wieder gefragt: Geht es Kommunenkindern besser oder nehmen sie mehr Schaden für das restliche Leben als andere Kinder?
Ich würde mir niemals anmaßen, das zu beantworten. Ich weiß es nicht. Ich bin nicht in einer Kommune aufgewachsen - ich habe das Thema nur recherchiert. Wie man seine Kindheit erlebt, ist sehr individuell. Man kann in einer Kommune beschädigt werden, man kann in einer Kleinfamilie beschädigt werden und man kann in beiden Lebensformen glücklich sein als Kind.
Was ist heute Familie? Früher war das klarer. Da hat sich viel verändert, Stichwort Patchwork-Familien. Früher gab es eine klare Zielsetzung.
ORF.at: Früher gab es auch eine klare Zielsetzung des Revoltierens: Hierarchien überwinden, Freiheit schaffen. Gibt es auch heute eine gemeinsame Klammer für eine ganze Generation junger, engagierter Menschen?
Kreutzer: Ich habe nicht das Gefühl. Ich finde es interessant zu beobachten, dass viele Menschen letztendlich doch wie ihre Eltern leben, wenn sie Kinder bekommen. Bei der Gründung einer Familie hat sicherlich jeder die Sehnsucht, dass das Kleinfamilienmodell noch funktioniert.
Eine gemeinsame Klammer wie damals gibt es sicher nicht. Es ist interessant zu beobachten, wie sich Leute in ihrer Position zu Wertefragen wandeln, wenn sie Kinder bekommen.
ORF.at: Vom Kommunenvater Hans gibt es im Film die Aussage: „Du musst nichts können, Du musst Dich nur trauen.“ Sein Sohn Vito sagt: „Ein bissl gezwungen hat er uns schon zum Freisein.“ War die Freiheit der Eltern von damals für ihre Kinder eine aufoktroyierte?
Kreutzer: In diesem Fall sicher. Man stößt in der Recherche für so einen Fall oft auf die Mühl-Kommune - auch wenn es im Film dann um etwas ganz anderes geht. Letztes Jahr bei der Diagonale habe ich die Doku „Die Kinder vom Friedrichshof“ gesehen, wo es um die Haltung der Kinder der Mühl-Kommune zu ihrer Vergangenheit geht. Den habe ich auch meinem Team gezeigt. Darin wird die Geschichte erzählt, dass jedes Kind für „schlimmes“ Verhalten Punkte bekommen hat. Am Ende wurde aber nicht der mit den meisten Punkten bestraft, sondern der, der keine Punkte hatte, weil er zu angepasst war.
Das war eine anschauliche Geschichte dafür, dass man von Kindern verlangt, frei und unangepasst zu sein. An sich ein schöner Gedanke - aber dadurch, dass man es verlangt, ist es schon wieder problematisch.
Ich selbst bin in eine Alternativschule gegangen - und mir hat das sehr gut getan. Ich war ein sehr braves Kind. In dieser Schule hat sich das geändert, ich habe dort gelernt, etwas lauter zu werden und zu rebellieren.
ORF.at: Haben Sie auch WG-Erfahrung?
Ja, aber nur in einer kleinen WG, ich habe nie in einer Achtpersonenwohnung gelebt.
ORF.at: Ist jede Kommune zum Scheitern verurteilt?
Kreutzer: Das würde ich so nicht sagen. Man hört immer nur von denen, die gescheitert sind. Ich finde die Kommune eine schöne Idee, auch wenn ich selbst in keiner leben möchte. Gerade heute klingt es zeitgemäß, Ressourcen und Kosten zu teilen. Gruppen sind eben sehr empfindlich, umso mehr, wenn man zusammen lebt. Wenn in einer Gruppe einer schwierig wird und sich gegen die Gruppenidee verhält, wird immer ein Ungleichgewicht entstehen. Das macht es schwerer als in einer Familie mit vier Personen, wo vielleicht ohnehin einer den Ton angibt.
ORF.at: Im Film wird auch das Leben in der Provinz thematisiert: die Ohrfeige vom Bauern, die gaffenden Leute nach dem Begräbnis. Die Figuren haben hauptsächlich Hohn für Landmenschen übrig. Ist das vermittelte Bild von der Provinz noch zeitgemäß? Eigentlich wurde das hauptsächlich in den 70er Jahren transportiert.
Kreutzer: Als wir in Turnau, wo wir gedreht haben, aufgetaucht sind, wurden wir auf Schritt und Tritt beobachtet.
Ich bin zuerst in Graz, dann in einer Kleinstadt aufgewachsen. Da habe ich schon zu spüren bekommen, dass unsere Familie anders war als die anderen. Ich habe selbst genähte Kleider getragen, unser Haus hat anders ausgeschaut. Ich hatte alternative Eltern.
Trotzdem ist eine 5.000-Einwohner-Kleinstadt kein Vergleich zu so einem Ort mit ein paar Hundert Einwohnern, wo alles genau registriert wird, was passiert. Erst dort, beim Dreh, habe ich so richtig eine Vorstellung davon bekommen, wie es gewesen sein muss, in so einem Ort in den 70er und 80er Jahren gelebt zu haben.
Jeder in der Ortschaft, wo wir gedreht haben, kannte die Geschichte des Hauses, das in Wahrheit keine Kommune beherbergt hatte, sondern ein Gasthaus gewesen war. Man konnte von jedem, der dort gelebt hat, die Lebens- und Familiengeschichte herausfinden. Das ist auch heute noch so. Natürlich entwickelt sich etwas weiter, und Werte verändern sich. Aber letztendlich ist auch so ein Ort eine kleine Gruppe, in der man funktionieren muss, um dazuzugehören.
ORF.at: Was muss man tun, um dazuzugehören?
Kreutzer: Es ist immer noch so am Land - aber auch oft in der Stadt -, dass man etwas Bestimmtes haben muss oder irgendwie ausschauen muss, um dazuzugehören. In der Stadt fällt das nicht so auf, weil es unterschiedliche Gruppen gibt. Am Land hat man nicht so viele Entscheidungsmöglichkeiten. Da schauen alle Häuser ungefähr gleich aus. Um dazuzugehören, muss man auch ein Haus haben, das so ausschaut. Das muss eine Terrasse haben und einen Griller und mittlerweile zum Glück auch Solarzellen.
Aber wenn man in Wien in einem Bobo-Bezirk wohnt, muss man auch bestimmte Sachen haben, damit man so ist wie alle - zumindest, wenn man es ein bisschen leichter haben will. In Hietzing sind es wieder andere Dinge.
ORF.at: Haben Sie als Regisseurin Vorbilder - und was ist davon in den Film eingeflossen?
Kreutzer: Ich entscheide mich nicht bewusst für einen Stil, das ist alles sehr intensiv gemacht worden, gemeinsam mit der Kamerafrau Leena Koppe.
Ich mag die alten Filme von Claude Sautet sehr gerne. Der Film, bei dem ich gewusst habe, dass ich auch Regie führen möchte, war „Der Eissturm“ von Ang Lee, der auch so ein Ensemblefilm ist wie „Die Vaterlosen“. Für Rückblenden in meinem Film hat mich der britische Fotograf Mark Borthwick mit seinen Bildern inspiriert und auch ein paar Szenen aus Gus Van Sants Paranoid Park, der zwar ganz anders ist, aber wo die Kamera auch ganz nah an den Schauspielern dran ist.
Ich schaue auch gerne Filme an, während ich drehe. Das stößt vieles an. Wenn ich einen schönen Film sehe, bekomme ich sowieso immer Lust, etwas zu machen. Und wenn man gerade etwas umsetzen kann, ist es umso besser.
Zweiter Teil des Interviews: Kino machen in Österreich?
Das Gespräch führte Simon Hadler, ORF.at
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