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Gezwungen zum Freisein

Gut 200 Filme werden heuer bei der Diagonale gespielt - das Festival des österreichischen Films macht seinem Namen Ehre. Alles hat Platz, vom experimentellen Kurzfilm bis zum aktuellen Schwabenitzky. Vor allem für junge Filmemacher ist die Diagonale ein wichtiges Forum. Heuer ist die Aufmerksamkeit des Publikums nicht zuletzt auf Marie Kreutzer und ihren ersten Spielfilm „Die Vaterlosen“ gerichtet.

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Im Interview mit ORF.at sagt die 33-jährige Drehbuchautorin und Regisseurin, dass die Diagonale für viele die allererste Möglichkeit darstellt, Filme zu zeigen, und das vor Branchenpublikum. Man trifft sich, kann Kontakte knüpfen und erhält unentbehrliches Feedback. Wer es schon geschafft hat, kommt trotzdem - das gebietet die Solidarität. Kreutzer zeigte 2001 ihren ersten Kurzfilm bei der Diagonale in Graz. Nun wurde ihr erster Spielfilm bei der Diagonale mit Preisen überhäuft.

Gut zweieinhalb Jahre arbeitete die studierte Dramaturgin am Drehbuch. Von der Finanzierung bis zur Fertigstellung des Films ist ein weiteres Jahr vergangen. Das bedeutete für sie, wie für viele andere Kulturschaffende, ein Leben im Prekariat. In diesem Fall scheint es sich ausgezahlt zu haben, wenn schon nicht finanziell (es gibt von Jahr zu Jahr weniger Förderungen), dann zumindest künstlerisch.

Aufarbeitung der Kommunenkindheit

In „Die Vaterlosen“ stellt Marie Kreutzer die Frage, was familiärer Zusammenhalt bedeutet - und was die Kinder der letzten Generation idealistischer Kommunarden aus ihrem Erbe gemacht haben. Hans war der Häuptling der Kommune, er trat vor dem großen Haus in der Obersteiermark gerne im Federschmuck auf. Von wem welches Kind war, wusste man nicht, bis alles auseinanderbrach und Bluttests gemacht wurden. Dann wurde aufgeteilt. 23 Jahre später ruft Hans jene Kinder von damals, deren Vater er war, und einen, für den er den Vater ersetzte, an sein Totenbett.

Regisseurin Marie Kreutzer

ORF.at/Simon Hadler

Marie Kreutzer im Interview: Der „Bobo-Bezirk“ ist auch nur ein Dorf

Manche mittlerweile Erwachsenen in ihren 30ern haben sich seit damals nicht gesehen. Auch die Partner sind mitgekommen. Für Überraschung sorgt vor allem die Anwesenheit von Kyra. Sie wurde von Hans als Zehnjährige samt ihrer Mutter aus der WG geschmissen - und er meldete sich bei seiner Tochter bis zu seinem Tod nie wieder. Kyra wusste nicht, wieso. Diese Frage steht im Zentrum der Handlung, und wenn sie am Ende beantwortet sein wird, muss die Vergangenheit aller umgeschrieben werden. Bis dahin wird gelacht, gealbert, geschrien, debattiert, gestritten, nostalgische Erinnerungen werden ausgetauscht, und die fröhliche Freiheitskommune wird als solche hinterfragt.

Stars vor der Kamera

Beim Casting überließen Kreutzer und ihr Team nichts dem Zufall. In den Hauptrollen glänzen unter anderen: Johannes Krisch, der momentan in jedem größeren österreichischen Film zu sehen ist („Revanche“, „Kottan“, „Vielleicht in einem anderen Leben“) und diesmal auf das am Theater eingelernte Over-Acting verzichtet - er spielt den Hans; dann als Vito Andreas Kiendl, der vor kurzem mit seiner Rolle in „Die unabsichtliche Entführung der Frau Elfriede Ott“ Erfolge feierte; und allen voran die 26-jährige Emily Cox, die den Spagat schaffte, „ernsthaftes“ Theater zu machen und gleichzeitig durch TV-Rollen (unter anderem „Polizeiruf 110“, „Winzerkönig“) zum liebsten Shootingstar des Boulevards („Bild“, „TV Media“) zu werden.

Die schauspielerische Leistung ist insgesamt beachtlich, vor allem, wenn man bedenkt, dass es bei einem Ensemblefilm auf die Nuancen ankommt und österreichische Filme leicht ins Peinliche kippen, wenn die Darsteller Dialekt sprechen und rural wirken wollen. Es geht auch anders, wie man sieht. Den Charakteren wird ihre Ambivalenz der eigenen Kindheit gegenüber und in den Beziehungen zueinander gelassen.

Gelungenes Spielfilmdebüt

Gekalauert darf werden, Kabarettfilmverdacht kommt dabei jedoch nie auf. „Die Vaterlosen“ ist ein zugleich trauriger und witziger, insgesamt solider Film geworden - beachtlich angesichts der Thematik, nicht nur weil es sich dabei um ein Spielfilmdeüt handelt. Die Dialoge klingen lange nach; etwa, als Vito, der die Kommune rund um Hans am ehesten idealisiert, eingestehen muss: „Manchmal hat er uns schon ein bissl gezwungen zum Freisein.“

Simon Hadler, ORF.at

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