Kunst für die Datenbankgesellschaft
Die Fotografen Michael Wolf und Doug Rickard durchstreifen Google Street View auf der Suche nach Motiven. Ihre viel beachteten Arbeiten sorgen für harte Kontroversen: Kann die gezielte Auswahl von Street-View-Bildern Journalismus oder Kunst sein?
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„Seit heute ist die Fotografie tot!“, so ein wütender Forenteilnehmer auf der Website des „British Journal of Photography“ im Februar. Die Redaktion hatte soeben vermeldet, dass Michael Wolfs Projekt „Street View: A Series of Unfortunate Events“ im Rahmen des renommierten Wettbewerbs World Press Photo lobend hervorgehoben wurde.
Der Grund für die Proteste der Leser: Wolf sucht nicht auf der Straße nach seinen Motiven, sondern bleibt zu Hause und durchstreift Google Street View. Seit 2007 schickt der Konzern aus Mountain View seine Fahrzeuge mit aufmontierten Panoramakameras durch die Städte. Dabei entstehen riesige virtuelle Labyrinthe aus digitalisierten Straßen und Häuserfronten, komplett mit Aufnahmen von Passanten.

Doug Rickard / White Press
Ungewollte Reportagen
Auch die vernachlässigten Teile der urbanen Räume sparen die Google-Fahrer nicht aus, dabei entstehen auch Reportagefotos als Nebenprodukt. Blogger wie Jon Rafman (9-eyes.com) sammeln diese Bilder von Drogendealern, Polizeirazzien, Unfällen und wartenden Prostituierten und basteln daraus Galerien von Kalamitäten, in denen sich endlos abwärtsscrollen lässt.
Doch Wolf ist nicht hinter dem sensationellen Einzelbild her. Ihm geht es um die spezifische Ästhetik von Street View, die aus der Spannung zwischen dem überpräzisen digitalen Bildmaterial und den aus Datenschutzgründen automatisch unkenntlich gemachten Bereichen darin hervorgeht.
Verschwommene Gesichter
Wolfs Street-View-Porträts zeigen daher nur verschwommene Gesichter, die gerade noch als solche erkennbar sind. Menschen mit verschwommenen Gesichtern hocken hinter Fahrzeugen mit ausradierten Kennzeichen. Schnell wird klar: Google Street View hat etwas mit der Realität zu tun, in der wir leben, aber diese Verbindung ist durch die Eingriffe ins Bildmaterial deutlich geschwächt.

Doug Rickard / White Press
Bei seiner Arbeit mit Street View zieht Wolf noch eine Abstraktionsebene ein. Er macht keine einfachen Screenshots, sondern er fotografiert mit Kamera und Makroobjektiv ausgewählte Einzelmotive vom Bildschirm ab. Teilweise sind auf den Ergebnissen noch die Navigationselemente von Street View oder der Mauszeiger des Betriebssystems zu sehen.
Seit breiter Einführung der Digitalfotografie im vergangenen Jahrzehnt fielen die Grenzkosten der Bilderproduktion auf nahe null. Das wiederum führte dazu, dass bei jedem herkömmlichen fotojournalistischen Auftrag die Auswahl des besten Einzelfotos aus dem Datenstrom die Erfassung des berühmten Cartier-Bresson’schen „entscheidenden Augenblicks“ mehr oder weniger ersetzt hat.
Analoge Bilderflut
Auch das Nachdenken über diese Entwicklung, dass der Fotograf zum Kurator wird, steckt in Projekten wie jenen von Michael Wolf oder dem anderen prominenten Beispiel für aktuelle Street-View-Fotokunst, nämlich „A New American Picture“ des US-Fotografen Doug Rickard. Das Buch, das bei dem kleinen aber wichtigen deutschen Verlag White Press erschienen ist, wurde von Martin Parr, einem der wichtigsten Kenner der Fotobuchszene, in die Top Ten seiner Lieblingswerke des vergangenen Jahres aufgenommen.
Und das nicht ohne Grund. Rickard nutzt Street View, um Bilder verwahrloster Ecken der USA zu zeigen, von Gegenden, in die sich nur noch robotische Überwachungskameras trauen. Dazu passt auch die Perspektive, Googles Auge schwebt höher als das eines menschlichen Fotografen, aus den menschlichen Figuren werden digitalisierte Subjekte. Anders als Wolf nimmt Rickard keinen Umweg über eine Kamera, er arbeitet direkt mit den Screenshots.

Doug Rickard / White Press
Eingefrorene Zeit
Der Titel „A New American Picture“ klingt insofern ironisch, als die darin gezeigten Bilder Gebiete der USA vorführen, in denen die Zeit eingefroren zu sein scheint. Die digital verwaschenen Figuren, die sie bevölkern, sind nicht nur vom Blick der Kamera zum Stillstand verurteilt worden.
Man könnte die Street-View-Projekte von Rickard und Wolf für Derivate bereits etablierter Stilrichtungen wie In-Game-Fotografie halten, ein aktuelleres Beispiel dafür wären die Arbeiten von Robert Overweg, der grafische Fehler in bekannten 3-D-Games festhält oder die bizarren Strukturen potemkinscher Videospieldörfer zeigt, indem er an die Grenzen der virtuellen Welten wandert.
Karte und Territorium
Doch Street View ist eben keine rein virtuelle Welt, als Teil von Googles Straßenkarte, die immerhin auch für Kfz-Navigationszwecke exakt genug sein muss, ist sie, wie gesagt, als Repräsentation eines real existierenden Raums mit diesem verbunden, wenn auch nur schwach. Es gibt eine Rückbindung von der Karte zum Gebiet, wie auch der französische Romancier Michel Houellebecq in seinem gleichnamigen letzten Werk veranschaulichte. Dort fertigt die Hauptfigur, ein Künstler, großformatige Digitalbilder alter Michelin-Straßenkarten an.
Anders als bei Houellebecq sind die Bilder, die Rickard und Wolf aus Street View gezogen haben, aber frei von der nostalgischen Sehnsucht nach dem Echten, nach dem Realen. Gerade bei Rickard sind die Bilder nur visualisierte Daten, mehr nicht. Sie sind einzig dazu angefertigt worden - um es mit dem legendären US-Fotografen Garry Winogrand zu sagen -, um nachzusehen, wie diese Daten denn als Bild aussehen, nicht mehr und nicht weniger.
Spiegel der Kontrollideologen
Diese Strategie dockt speziell Rickards Werk in eine gefährliche Strömung der gesellschaftlichen Entwicklung ein und macht es relevant. Die herrschende vulgärkybernetische Kontrollideologie nämlich hat dazu geführt, dass sich Unternehmen mit ihren Planungs- und Handelssystemen sowie Staaten mit Überwachungsvorhaben wie der Vorratsdatenspeicherung im wahrsten Sinne des Wortes einbilden, dass die Daten, mit denen sie umgehen, die Realität unmittelbar repräsentieren.
Das wiederum ist ein Trugschluss, von dem sich die Fotografie im Zuge eines langen und schmerzhaften Prozesses der Selbstreflexion ihrer wichtigsten Akteure verabschieden musste. Ein Bild zeigt nicht direkt „die Realität“ oder „wie es einmal war“, seine Bedeutung ist von den Bedingungen seiner Produktion abhängig, von den verwendeten Geräten, vom gewählten Blickwinkel. Diese wertvolle Erfahrung trägt die Street-View-Fotografie von Rickard und Wolf. Sie ist daher die adäquate Kunst für die Datenbankgesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Günter Hack, ORF.at
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