Themenüberblick

Pfeifkonzert der Whistleblower

Was die US-Regierung und die Blockaden diverser Finanzdienstleister nicht erreicht haben, erledigen die Protagonisten von WikiLeaks nun selbst. Der lautstark ausgetragene Streit zwischen den WikiLeaks-Veteranen Julian Assange und Daniel Domscheit-Berg geht an die technische und ideologische Substanz der Plattform.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

„WikiLeaks ist ein Betrug“, schrieb John Young, Gründer der altgedienten Enthüllungsplattform Cryptome.org, am 7. Jänner 2007. An diesem Tag hatte Young auch den anonymisierten Mailwechsel aus der Gründungsphase der Whistleblower-Website publiziert, die kurz vorher, im Dezember 2006, ans Netz gegangen war.

Young, der seit 1996 auf seiner Site Geheimdokumente veröffentlicht, war demnach 2006 von Assange und dessen Mitstreitern zur Mithilfe beim Start von WikiLeaks aufgefordert worden. Er stieß sich aber an Assanges Plan, innerhalb eines halben Jahres fünf Millionen Dollar an Unterstützergeldern einsammeln zu wollen, und distanzierte sich von der Organisation.

Zerwürfnis mit Assange

Es war auch Young, der am Mittwoch auf seiner Website als Erster Ausschnitte aus dem Buch „Inside Wikileaks. Meine Zeit bei der gefährlichsten Website der Welt“ publizierte, das der ehemalige deutsche WikiLeaks-Sprecher Daniel Domscheit-Berg gemeinsam mit der „Zeit“-Onlinejournalistin Tina Klopp verfasst und am Donnerstag offiziell in Berlin vorgestellt hat. Domscheit-Berg, der seit 2007 mit Assange an WikiLeaks gearbeitet hatte, verließ die Organisation im August 2010.

In seinem Buch erläutert der 32-jährige deutsche Informatiker, der zu seiner Zeit als WikiLeaks-Sprecher unter dem Pseudonym Daniel Schmitt aufgetreten war, die Gründe für sein Zerwürfnis mit Assange. Er wirft ihm unter anderem laxen Umgang mit Spendengeldern vor. So habe Assange für die Aufbereitung des Videos „Collateral Murder“, das die Tötung von Reuters-Journalisten im Irak durch die Besatzung eines US-Kampfhubschraubers zeigt, 50.000 Dollar an Spesen aus dem Spendentopf haben wollen, obwohl die Aktion längst nicht so viel Geld gekostet habe.

Plattform angeschlagen

Schwerer als dieser Vorwurf wiegt allerdings Domscheit-Bergs Feststellung, er habe gemeinsam mit einem anderen ehemaligen WikiLeaks-Unterstützer nach seinem Ausstieg bei der Organisation jenen Teil der Plattform entfernt, über den Whistleblower anonym Dokumente hochladen konnten. Außer Hard- und Softwarekomponenten will Domscheit-Berg auch Einsendungen mitgenommen haben, die er erst dann zurückgeben wolle, wenn WikiLeaks damit verantwortungsvoll umgehen könne. Assanges deutscher Anwalt Johannes Eisenberg hat das Material bereits zurückgefordert.

Auch der isländische WikiLeaks-Sprecher Kristinn Hrafnsson griff Domscheit-Berg am Donnerstag an. Der Deutsche sei kein Mitgründer der Organisation, sondern habe nur ab und zu als Sprecher gedient, er könne auch nicht programmieren und habe bereits seit April 2010 Falschinformationen über WikiLeaks verbreitet. Domscheit-Berg habe WikiLeaks Daten gestohlen und die Organisation sabotiert. Weder Eisenberg noch Domscheit-Berg waren am Donnerstag für Anfragen von ORF.at zu erreichen.

WikiLeaks vs. OpenLeaks

Aus Hrafnssons wie auch aus Domscheit-Bergs Texten geht hervor, dass WikiLeaks derzeit nicht oder nur eingeschränkt in der Lage ist, neue Dokumente sicher entgegenzunehmen. Man sei dabei, das gesamte Datenempfangssystem neu zu überarbeiten, schrieb Hrafnsson, das sei eine komplizierte Aufgabe und brauche Zeit, die WikiLeaks derzeit nicht habe.

Domscheit-Berg arbeitet seit seinem Ausstieg aus WikiLeaks an einem neuen Projekt namens OpenLeaks, das seit Jänner im Testbetrieb läuft. Ob er seinem Projekt mit dem Enthüllungsbuch über Assange einen Gefallen getan hat, darf bezweifelt werden. Wie es in den FAQ von OpenLeaks heißt, setzt der Umgang mit sensiblen Insiderinformationen voraus, dass der Whistleblower der Organisation vertrauen kann, der er seine Daten überlässt. Die derzeit laufenden gegenseitigen Attacken stützen weder die Reputation von Assange noch jene von Domscheit-Berg und gefährden damit beide Projekte.

Marktlücke Whistleblower-Plattform

WikiLeaks hat sich seit seiner Gründung als wichtiges Werkzeug für Menschen erwiesen, die Insiderinformationen aus Unternehmen und Regierungsorganisationen an die Öffentlichkeit bringen wollten. Das gilt besonders für die Veröffentlichung von Dokumenten aus den Graubereichen der Großbürokratien, die wichtig, aber weit weniger aufsehenerregend sind als das Hubschraubervideo aus dem Irak oder die diplomatischen Depeschen.

So tauchten bisher unter Verschluss gehaltene Bestandteile der Verträge der deutschen Behörden mit dem Mautkonsortium Toll Collect ebenso auf WikiLeaks auf wie geheime Absprachen der isländischen Regierung mit ihren britischen und niederländischen Gläubigern in der Icesave-Finanzkrise. Bedarf an unabhängigen und sicheren Plattformen als logistischer Basis für die Arbeit von NGOs und investigativen Journalisten besteht auch weiterhin.

Streit mit Medienpartnern

Ob WikiLeaks seine mit Veröffentlichung des „Collateral Murder“-Videos etablierte Taktik, Dokumente in Kooperation mit einigen zentralen Medienunternehmen an die Öffentlichkeit zu bringen, aufrechterhalten wird, ist fraglich. Im Zuge der Publikation der US-Botschaftsdepeschen haben sich Assange und die mit ihm kooperierenden Redakteure der „New York Times“ („NYT“) und des britischen „Guardian“ zerstritten.

In dieser Situation ergreift sogar WikiLeaks-Kritiker Young wieder Partei für Assange. In einem von Zynismus triefenden Bericht über eine Diskussionsveranstaltung mit „NYT“-Chefredakteur Bill Keller und dessen „Guardian“-Pendant Alan Rusbridger an der New Yorker Columbia-Universität am 4. Februar bezichtigt er die „Mainstreammedien“ des Verrats an WikiLeaks. Die Unternehmen brächten nun mit gewinnträchtigen Artikeln und Büchern ihre Auflagen in die Höhe und die Schäfchen ins Trockene, während Assange, der ihnen kostenlos prestigeträchtige Insiderinformationen verschafft habe, sich vor Gericht verantworten müsse.

Der vergessene Verlierer

Der wahre Verlierer des jüngsten WikiLeaks-Abenteuers aber sei Bradley Manning, der US-Soldat, der die Botschaftsdepeschen an die Whistleblower-Plattform übermittelt haben soll, um die Praktiken der US-Regierung und des Militärs anzuprangern. Der 22-jährige Soldat, der im Mai 2010 verhaftet wurde, sitzt derzeit in einem Militärgefängnis der Marines in Quantico, Virginia in einer Einzelzelle unter verschärften Bedingungen, wie der „Salon“-Journalist Glenn Greenwald im Dezember schrieb.

Manning dürfe seit Monaten keinen Schritt ohne Überwachung machen und seine Einzelzelle nur während einer Stunde am Tag verlassen. Die erste Vorverhandlung soll im Mai stattfinden. Manning wurde verhaftet, weil er dem US-Regierungsinformanten und Ex-Hacker Adrian Lamo in einem Chat verraten haben soll, die Depeschen auf WikiLeaks hochgeladen zu haben. WikiLeaks hat nie bestätigt, dass es Manning war, der die Depeschen an die Plattform übermittelt hat.

Links: