Der verlorene Vorname
Man stelle sich einen großformatigen Bildband mit dem Titel „Italian Lifestyle“ vor: Villen, Landhäuser mit Kräutergärten, lukullische Tafeln, gestylte Menschen mit tiefsinnigen, erotischen Blicken. Und plötzlich beginnen diese Menschen zu sprechen und sich zu bewegen: Das ist Luca Guadagninos Film „I am Love“ mit Tilda Swinton in der Hauptrolle.
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Guadagnino hat hoch gepokert und tief in den Gefühlstopf gegriffen. Die Streicher sorgen für musikalisches Schmieröl, die bunten Bilder für Kitsch - und auf symbolischer Ebene lässt sich jedes Detail, vom Falter, der gegen das Licht fliegt, bis zur veränderten Frisur, leicht dechiffrieren. Dass der Film dennoch nicht gänzlich überfrachtet wirkt, hat er wohl der dosierten Handlung zu verdanken. Langsam, sehr langsam entwickelt sich der Plot, die Kamera darf auch bei scheinbaren Nebensächlichkeiten verweilen.
Im Mittelpunkt steht die wohlhabende italienische Fabrikantenfamilie Recchi. Der Großvater tritt ab und gibt die Leitung der Firma an seinen Sohn und an seinen Enkel weiter. Die Tochter des Hauses entdeckt, dass sie lesbisch ist, und beginnt eine Beziehung mit einer Frau. Und die Mutter, von Tilda Swinton gespielt, verliebt sich in einen Freund ihres Sohnes. Dieser Freund ist Koch und gut 25 Jahre jünger als sie. So weit, so einfach und so unspektaktulär. Guadagnino ist hoch anzurechnen, dass er nicht die schon so oft erzählte Geschichte vom großen Drama hinter der schönen Fassade bemüht.
Höfliche Anteilnahme
Es sind die kleinen Bruchlinien im Familienleben, für die er sich interessiert, und kein alle unterdrückender Usurpator. In der Familie ist viel Liebe vorhanden, aber der Zusammenhalt und die Loyalität, die bei jedem Anlass gepredigt werden, lassen nur wenig Raum für Individualität. Die Mutter ist Russin, sie hat in die Familie eingeheiratet. Ihr Mann gibt ihr sogar einen neuen Namen, weil ihm der russische offenbar zu kompliziert ist: Emma. Emma beschäftigt sich fortan mit Empfängen und dem Leben ihrer Kinder.
Höfliche Anteilnahme am Leben der anderen - davon ist ihr Alltag bestimmt. Emma ist häufig müde. Spannend ist ihr Leben nicht, ihr Blick sagt mitunter: Da müsste doch noch etwas mehr zu holen sein. Tilda Swinton beweist wieder einmal ihr großartiges Talent und ihre Vielseitigkeit. Ihr beim Alltag in der schönen Kulisse zuzusehen, hätte schon gereicht, eigentlich ist die Handlung überflüssig. Und die Rolle dürfte sie nicht von ungefähr bekommen haben.
Der italienische Ferran Adria
Als der Freund von Emmas Sohn die Familie bekocht, verliebt sie sich zunächst in dessen Essen. Der bärtige Schönling macht auf italienischen Ferran Adria. Er drückt Essen aus Tuben und bearbeitet es mit dem Bunsenbrenner, und er zeigt ihr, wie das geht - zärtliche Berührungen der Hände beflügeln die Phantasie der beiden. Der Film lebt lange von der Frage, ob aus der Schwärmerei eine unmögliche Liebesbeziehung wird.
Tilda Swinton selbst thematisiert - offenbar ohne jede Scheu - in Interviews ihre eigene, private Beziehung mit einem zwanzig Jahre jüngeren Maler, während sie gleichzeitig mit dem Vater ihrer Kinder zusammenlebt, der seinerseits zwanzig Jahre älter ist als sie und ebenfalls eine jüngere Freundin hat. Swinton konnte sich also einbringen - sie hat mit Guadagnino gemeinsam sieben Jahre lang an dem Film gearbeitet. Das Ergebnis ist Filmkunst, mit Blick fürs Timing. Angst vor Kitsch sollte man jedoch nicht haben, wenn der Koch am Ende Emma ihren russischen Namen zurückgibt.
Simon Hadler, ORF.at
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