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Der Katalysator der Revolten

Die Proteste und Rebellionen, die sich auf immer mehr arabische Länder ausbreiten, haben einen gemeinsamen Auslöser - den TV-Nachrichtensender al-Jazeera. Der Sender des Scheichs von Katar, Hamad bin Chalifa Al Thani, gerne auch als „CNN des Nahen Ostens“ apostrophiert, hat mit seiner ausführlichen Berichterstattung der Ereignisse einen wesentlichen Anteil an der Ausbreitung der Proteste.

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Al-Jazeera wurde bereits dafür bejubelt, mit seiner frühzeitigen Berichterstattung über die Ereignisse in Tunesien - lange bevor westliche Korrespondenten in das Land kamen - die Revolte erst ermöglicht zu haben. Diese Tage seien „in vielerlei Hinsicht die Stunde von al-Jazeera“, ist die „New York Times“ („NYT“) überzeugt.

Der Sender habe - nicht erst jetzt - entscheidend dabei mitgeholfen, der von den oppressiven Regimen unterdrückten Wut in der Bevölkerung eine Stimme zu verleihen. Al-Jazeeras Fokus richtet sich dabei vor allem gegen arabische Regierungen, die mit den USA oder gar Israel kooperieren. Das sei seit Jahren eine der Grundausrichtungen der Berichterstattung bei al-Jazeera, indem die politische Krise und das Leiden der Araber betont würden, so die „NYT“.

„Ohne al-Jazeera unmöglich“

Marc Lynch, Nahost-Experte an der Washington University, ist überzeugt, dass al-Jazeera mithalf, das Gefühl zu schaffen, es gehe um einen gemeinsamen Kampf in der gesamten arabischen Welt. „Sie haben diese Entwicklungen nicht ausgelöst, aber es ist fast unmöglich, sich vorzustellen, dass all das ohne al-Jazeera passiert wäre.“

Das Satellitennetzwerk mit seinen arabisch- und englischsprachigen Programmen, „benutzt seine Berichterstattung, um Botschaften zu vermitteln“, so Randa Habib, eine in London lebende politische Analystin und Autorin, gegenüber der „Los Angeles Times“. Der Sender wolle die Zuseher dazu bringen, die Ereignisse in den arabischen Ländern zu vergleichen, damit sie „die Lektion von Tunis erkennen“.

Sender mit Schlagseite

Al-Jazeera wird häufig verdächtigt, mit seiner Berichterstattung die radikalislamischen Gruppen Hisbollah im Libanon und Hamas im Gazastreifen zu unterstützen. Klar ist, dass die Sympathien des Senders meist klar verteilt und erkennbar sind - gegen westlichen, vor allem US-amerikanischen Einfluss und gegen die Unterdrückung. Und dass die Redaktion den Begriff Terrorismus auch dann konsequent vermeidet, wenn es sich um Anschläge auf Zivilisten handelt, wird auch von einigen arabischen Kollegen kritisiert.

Diese Woche sorgte der Nachrichtensender mit den Enthüllungen im WikiLeaks-Stil über die Friedensverhandlungen zwischen der Palästinensischen Autonomiebhörde und Israel für Aufregung. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas warf daraufhin dem Sender vor, er versuche, zur Gewalt anzustacheln und ihn politisch zu zerstören. Die Veröffentlichung von Dokumenten, in denen sich die Palästinsenserführung zu weitreichenden Konzessionen bereiterklärte, führte zu wütenden Demonstrationen. Umgekehrt wurde ein Büro des Nachrichtensenders im Westjordanland gestürmt und zerstört - mutmaßlich von Abbas-Anhängern.

Und im Libanon steckten Anhänger des gestürzten - prowestlichen - Ministerpräsidenten Saad Hariri einen Übertragungswagen des Senders in Brand und griffen dessen TV-Crew an. Die sunnitischen Hariri-Anhänger warfen dem Sender vor, mit der Hisbollah und anderen schiitischen Gegnern zu sympathisieren. Die Hisbollah hatte Tage zuvor mit dem Auszug aus der Einheitsregierung Hariri gestürzt und einen eigenen Kandidaten als neuen Regierungschef erzwungen.

Druck nachgegeben?

Al-Jazeera wurde vorgeworfen, die Revolte in Ägypten - auf Druck des Emirs von Katar - zunächst heruntergespielt zu haben. Mit einem Tag Verzögerung stieg der Sender jedoch mit der gewohnten Verve in die Berichterstattung ein. Die TV-Station hat allerdings schon in der Vergangenheit politischem Druck nachgegeben. So wurde 2007 die kritische Berichterstattung über Saudi-Arabien plötzlich deutlich abgemildert. Doch laut „NYT“ ist al-Jazeera unter den arabischen TV-Stationen noch immer jene, die am wenigsten Rücksicht auf politische Interessen nimmt.

Undercover in Tunesien

Und al-Jazeera bewies, gerade in Tunesien, professionelle Hartnäckigkeit, die jedem seriösen Nachrichtenmedium zur Ehre gereichen würde: Trotz massiver Behinderung durch das Ben-Ali-Regime - Al-Jazeera-Reporter wurden des Landes verwiesen - brachte der Sender die ersten Exklusivbilder vom Aufstand. Der tunesischstämmige Al-Jazeera-Sprecher Mohammed Krichen habe einen alten Freund und freischaffenden Journalisten Lotfi Hajji als geheimen Reporter in dem Land engagiert, so die „NYT“.

Dieser sei zwar von der Polizei ständig überwacht und belästigt worden, doch als der Aufstand begann, habe er von lokalen Kontakten Videos von Polizeigewalt via Facebook zugespielt bekommen. Al-Jazeera habe dann begonnen, die grobkörnigen, schlechten Handyaufnahmen zu zeigen. Jedes Mal, wenn eines der Videos auf al-Jazeera gezeigt worden sei, habe Hajji noch mehr Videos zugespielt bekommen.

„Beginn des Endes eines Diktators“

Das tunesische Regime warf dem Sender aus Katar vor, dieser wolle wegen der eigenen antiwestlichen Einstellung die Proteste befeuern. Die Betreiber wollten ein „moderates“ arabisches Regime zu Fall bringen. So stolz der Sender auf seine Katalysatorrolle in Tunesien sei - die Verantwortlichen würden auch die damit verbundenen Risiken sehen.

„Wir sollten nicht glauben, dass es unsere Aufgabe ist, die arabische Bevölkerung von der Unterdrückung zu befreien“, so der Anchor-Mann Krichen, der gegenüber der „NYT“ zugleich betont: „Wir sollten unsere Augen offen halten und jedes Ereignis festhalten, das der Beginn des Endes eines Diktators in der arabischen Welt sein könnte.“

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