Überalterung im Gerichtssaal
US-Richter auf Lebenszeit dürfen auch noch dann Recht sprechen, wenn ihr Urteilsvermögen möglicherweise schon auslässt - insbesondere bei der Frage, ob sie nicht besser freiwillig in Pension gehen sollten. Heute sind laut der investigativen Nachrichtenwebsite Pro Publico zwölf Prozent der entsprechenden Richter über 80 Jahre, elf sind über 90, ein Richter sogar über 100.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Bei den Gerichten gibt es keine Pläne, wie man mit Richtern mit altersbedingten kognitiven Problemen umgehen soll. Auch gibt es keine Richtlinien, die regelmäßige ärztliche Kontrollen empfehlen.
„Wie kriegen wir Oma von der Autobahn?“
Das System beruht im Wesentlichen darauf, dass Richter ihre Kollegen beobachten und ihnen Ratschläge geben und hinter den Kulissen versuchen, sie von den Vorzügen der Pension zu überzeugen. Richter Judge Dee Benson aus Utah vergleicht die Situation mit dem Problem, ältere Menschen zu überreden, nicht mehr Auto zu fahren: „Wie kriegen wir Oma von der Autobahn runter?“
Für den Obersten Gerichtshof wurde das Problem schon öfter thematisiert, bei den Bezirksrichtern gibt es dafür aber noch kaum Aufmerksamkeit. Dabei leiden laut Statistiken rund 13 Prozent aller Amerikaner über 65 unter Alzheimer, bei den über 85-Jährigen muss rund die Hälfte mit der Krankheit oder mit Demenz kämpfen.
Kritik aus den eigenen Reihen
Frank Easterbrook, Chef des Berufungsgerichts in Chicago, gilt als einer der schärfsten Verfechter einer Neuregelung. Zwei Kollegen schickte er eigenhändig zum Neurologen, einer ging nach einer Alzheimer-Diagnose freiwillig in Pension, ein zweiter weigerte sich nach einem Schlaganfall, Arbeit abzugeben. Easterbrook setzte ihn von allen Strafverfahren ab. Er forderte sogar alle Anwälte auf, Meldung zu machen, wenn sie glauben, Richter würden Demenzsymptome zeigen – eine gewagte Aktion, wie viele Kollegen sagen.
„Was ist eine E-Mail?“
Pro Publico nennt auch etliche Beispiele für Richter, deren Urteils- und Erinnerungsvermögen kaum noch dazu reicht, Recht zu sprechen. So habe der damals 84 Jahre alter Richter Richard Owen in Manhattan bei einer Verhandlung gefragt, was denn eine E-Mail sei.
Dabei hatte bei seinem bekanntesten Fall in seiner langen Karriere rund um einen Investmentbanker eine einzige E-Mail eine entscheidende Rolle eingenommen. Einen Monat später verstand er die Ausführungen eines Anwalts nicht, wonach der „Angeklagte der Schlüssel zur Aufklärung“ des Falls sei. Owen sprach plötzlich von einem realen Schlüssel und wurde freundlich aufmerksam gemacht, dass es so ein Beweisstück im Prozess nicht gibt.
Auch Anfängerfehler schleichen sich immer wieder ein. So habe ein Richter in seinen 70ern bei einem Urteil vergessen, vor dem Urteil dem Angeklagten eine Wortmeldung zu gewähren. Der Prozess musste wiederholt werden
Kaum Amtsenthebungen
Bundesrichter werden vom Präsidenten mit Zustimmung des Senats ernannt und dürfen so lange dienen, wie sie „gutes Verhalten“ zeigen, real bedeutet das eben auf Lebenszeit.
Nur an speziellen Gerichten
Richter auf Lebenszeit nach Artikel III der US-Verfassung dienen am Obersten Bundesgerichtshof, in 13 Berufungsgerichten, 94 Bezirksgerichten und zwei Gerichten mit besonderer Zuständigkeit.
Absetzungen sind nur durch ein Enthebungsverfahren möglich, mit einer Anklage durch das Repräsentantenhaus und durch Zweidrittelmehrheit im Senat. Allerdings schlagen sich die Abgeordneten nur ungern damit herum. Seit 1985 wurden nur vier Richter ihres Amtes enthoben, der letzte Fall davor stammt aus 1936. Wegen Unzurechnungsfähigkeit wurde überhaupt nur einmal ein Richter abgesetzt – und das war 1803.
Richter auf Lebenszeit wurden in der Verfassung 1789 verankert, um die Rechtsprechung besonders zu schützen. Bei einer deutlich niedrigeren Lebenserwartung waren senile Richter damals freilich kein Thema.
Arbeit bis zum Umfallen
Mit 65 und mindestens 15 Jahren im Dienst können Richter in Pension gehen oder als „Seniorrichter“ weiterarbeiten, wobei sie im Wesentlichen selbst bestimmen können, wie viel sie arbeiten. Dabei unterstützen sie jüngere Richter – und angesichts zahlreicher vakanter Stellen sind sie aus dem Justizsystem kaum wegzudenken. Laut Pro Publico wickelten „Seniorrichter“ 2008 mehr als 18 Prozent aller Fälle ab – doppelt so viele wie noch zehn Jahre davor. Von der Arbeit die Finger zu lassen, scheint ihnen schwerzufallen: Eine Studie von 2005 besagt, dass 90 Prozent aller Bezirksrichter im ersten Jahr ihrer vollständigen Pensionierung sterben.
Nur wenige einsichtig
Pro Publico nennt aber auch Positivbeispiele: Richter Jack Weinstein aus Brooklyn gilt trotz seiner 89 Jahre noch immer als Kapazität. Er räumt ein, dass sein Erinnerungsvermögen nicht mehr ganz das alte ist, sein Urteilsvermögen sei aufgrund seiner Erfahrung aber vielleicht heute besser als früher. Um seine Aussagen zu untermauern, unterzieht er sich jährlich einem neurologischen Test inklusive Computertomografie.
Karen Williams, bereits mit 40 zur Bezirksrichterin ernannt, traf selbst eine schwere Entscheidung. Als sie plötzlich Orientierungsschwierigkeiten bekam, unterzog sie sich einem Test, bei dem Alzheimer festgestellt wurde. Obwohl sie durchaus in der Lage gewesen wäre, ihre Arbeit noch einige Zeit weiterzuführen, entschloss sie sich dafür, sofort ihren Job sein zu lassen.
Links: