„Steuerverbrechen wird es immer geben“
Europa hat ein riesiges Finanzproblem, das die Nationalstaaten und die EU-Kommission seit Jahren nicht in den Griff bekommen. Jährlich werden durch großangelegten und organisierten Mehrwertsteuerbetrug den nationalen Finanzbehörden Dutzende Milliarden Euro an Steuergeldern abgeknöpft.
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Insgesamt schätzte die International VAT Association in einem Bericht an die EU-Kommission im Frühjahr 2007 den Verlust durch Mehrwertsteuerbetrug auf 100 Milliarden Euro. Um die Dimension zu verdeutlichen: Damit könnte mit einem Schlag mehr als das gesamte Irland-Hilfspaket (85 Mrd. Euro) finanziert werden, das im November wegen der Euro-Krise beschlossen worden war. Und das gesamte EU-Budget für heuer beläuft sich auf 126 Milliarden Euro.
Genau Zahlen zum Steuerbetrug gibt es nicht - doch der Karussellbetrug machte einen wesentlichen Bestandteil aus. Und vor allem: Bei dieser Form des Betrugs wird nicht nur die fällige Steuer nicht abgeliefert, die Betrüger kassieren vielmehr ihrerseits große Geldbeträge von der Finanz.
Grenzenloser Betrug
Der Verkauf von Gütern und Dienstleistungen von einem EU-Land in ein anderes ist von der Mehrwertsteuer (MwSt.) befreit. Erst wenn der Importeur diese im eigenen Land weiterverkauft, muss er die MwSt. aufschlagen und an das Finanzamt abführen. Wenn der Käufer die Güter oder Dienstleistung selbst wieder ins Ausland verkauft, kann er die bereits gezahlte Steuer von der Steuerbehörde zurückfordern (Vorsteuerabzug). Diesen Umstand und die seit Einführung des Binnenmarktes 1993 weggefallenen Kontrollen an der Grenze machen sich die Betrüger zunutze, um systematisch Güter nur zum Abkassieren der MwSt. von den Finanzbehörden im Kreis zu verschieben - daher auch der Name Karussellbetrug.
Fünf Milliarden Euro Schaden
Der Fall des Niederösterreichers Werner Rydl, der 2010 nach jahrelangem Tauziehen von Brasilien ausgeliefert wurde, ist hierzulande die Spitze des Karussellbetrugs. Rydl selbst bezifferte den entstandenen Gesamtschaden auf fünf Milliarden Euro. Im Vorjahr wurde Rydl in Österreich verurteilt, musste aber wegen der angerechneten U-Haft nur zwei Tage hinter Gitter.
Keine Zahlen für Österreich
In Österreich ist das Finanzministerium äußerst vorsichtig, was die Quantifizierung des Problems betrifft. Es gebe keine Zahlen, nicht einmal Schätzungen, da die Kriminellen „nun einmal keine Statistiken führen“, so der Sprecher von Finanzminister Josef Pröll, Harald Waiglein, gegenüber ORF.at. Hier eine Zahl zu nennen, wäre „unseriös“. Sehr wohl räumt Waiglein aber ein, dass Karussellbetrug auch in Österreich ein nennenswertes Problem und das größte im Bereich der Umsatzbesteuerung sei. Der bekannteste Fall aus der jüngeren Vergangenheit ist jener von Werner Rydl, der sich jahrelang ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Finanzbehörden lieferte, nur um sich dann nach Brasilien abzusetzen.
Das Erstaunliche an dem Phänomen: Obwohl die EU-Mitgliedsländer schon seit fast 20 Jahren über das Loch im Netz, das Steuerbetrügern im großen Stil Tür und Tor öffnet, Bescheid wissen, gibt es bisher kein hinreichend entschlossenes und geschlossenes Vorgehen.
Keine Zollkontrollen mehr
Seit 1993, als mit der Einrichtung des Binnenmarktes die Zollkontrollen wegfielen, besteht das Problem - und die dadurch nötig gewordene grundsätzliche Anpassung des MwSt.-Regimes wurde bisher nicht umgesetzt. Es gilt vielmehr seit dieser Zeit ein Übergangssystem. Dieses wird von Fall zu Fall immer wieder leicht angepasst, hinkt aber immer mehrere Schritte hinter den Betrügern her.
Bisher scheiterte es immer an der mangelnden Kooperation zwischen den Nationalstaaten, die alleine für Steuerangelegenheiten zuständig sind. Auch laut Waiglein ist „der springende Punkt die lückenlose und zeitnahe Kontrolle“. Anders als die EU-Behörden und zahlreiche Beobachter ist Waiglein der Ansicht, dass in diesem Bereich in den letzten Jahren sehr wohl Fortschritte gemacht worden seien - etwa bei der elektronischen Vernetzung der nationalen Finanzbehörden der EU-Staaten untereinander.
Mit Ausnahmen gegen Betrüger
Österreich holte sich vom EU-Rat zudem in mehreren Branchen, in denen der Karussellbetrug besonders verbreitet ist, Ausnahmen: So gilt im Schrotthandel, der Bauindustrie und demnächst auch bei Reinigungsfirmen das Reverse-Charge-Verfahren, mit dem die Pflicht zur MwSt.-Abführung auf die Käuferfirma verlagert wird. Dadurch wird die Vorsteuer nur noch gegenverrechnet, aber nicht mehr ausgezahlt, und der Finanz entsteht kein Schaden.
Ein Vorstoß Österreichs zur Durchführung eines allgemeinen EU-Pilotprojekts gegen den MwSt.-Betrug durch Einführung des Reverse-Charge-Modells erhielt 2008 nicht die notwendige Unterstützung aller EU-Staaten, vor allem Frankreich war gegen das Projekt.
„Wie verhindert man einen Mord?“
Im Finanzministerium gibt man sich keinen Illusionen hin: „Es wird nie so sein, dass es kein Verbrechen mehr geben wird, auch Steuerverbrechen wird es immer geben“, so Waiglein. Dem Karussellbetrug einen Riegel vorzuschieben, sei ein bisschen wie die Frage, „wie verhindert man einen Mord, bevor er begangen wird“.
Mehrmals versuchte die EU-Kommission, das System zu reformieren - sie scheiterte jedoch immer an nationalen Widerständen. Nun hat EU-Steuerkommissar Algirdas Semeta einen neuen Vorstoß gestartet. Noch heuer will er einen neuen Aktionsplan vorlegen - die alleinige Entscheidung liegt freilich bei den Mitgliedsländern. Es bleibt abzuwarten, ob die Schuldenkrise den Budgetschmerz so sehr erhöht hat, dass sich die Regierungen zu einem effektiveren Kampf gegen das organisierte Steuerverbrechen durchringen.
Guido Tiefenthaler, ORF.at
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