„Alte, italozentrische Männer“
Die jüngste Enthüllung der Website WikiLeaks widmet sich einem ganz besonderen Ziel, oder eben auch nicht: Denn wenn man Depeschen der US-Botschaft im Vatikan glaubt, agiert auch der Heilige Stuhl nicht ethischer als jeder andere Staat, sondern höchstens ein wenig sonderlicher.
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Der Schwung der nun veröffentlichten Depeschen enthält wieder einmal eine Fülle von wenig freundlichen Charakterisierungen, die nie für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Die Vatikan-Führung wird etwa als „Zirkel alter, italozentrischer Männer“ beschrieben, die sich in der Welt von heute nicht zurechtfinden. Viel schwerer wiegen jedoch Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal.
Missbrauchsuntersuchungen als „Ärgernis“
Konkret geht es in den Depeschen an das US-Außenministerium um die „Murphy-Kommission“. Die irische Expertengruppe hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche Irlands möglichst rasch, möglichst umfassend, möglichst ausgewogen und möglichst unbürokratisch aufzuarbeiten. Das gefiel dem Vatikan offenbar gar nicht.
Dass die Murphy-Kommission letztes Jahr auf kurzem Weg vom Vatikan alle verfügbaren Informationen über Missbrauchsfälle haben wollte, war für die meisten Kirchenleute dort ein „Ärgernis“, zitierte der britische „Guardian“ (Samstag-Ausgabe) aus einer Depesche der US-Botschaft in Rom. Der Vatikan störte sich demnach an der Form der Kontaktaufnahme.
Formen wichtiger als Inhalte?
Zwar hätten „die Vatikan-Kontakte sofort tiefes Mitgefühl für die Opfer zum Ausdruck gebraucht“ und „betont, dass die oberste Priorität das Verhindern einer Wiederholung sei“ - genau so sehr habe man sich jedoch darüber empört, dass die Murphy-Kommission es gewagt habe, sich direkt an den Vatikan zu wenden und nicht die langwierigen diplomatischen Wege beschritten habe.
Nach dem Dafürhalten des Vatikans hätte die irische Regierung demnach „einschreiten“ und der Murphy-Kommission die direkte Kontaktaufnahme mit dem Vatikan verbieten sollen. Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone schrieb dem Bericht zufolge schließlich an die irische Botschaft und forderte, dass alle weiteren Anfragen über diplomatische Kanäle gestellt würden.
„Respekt vor Vatikan“ als Priorität
Irlands Botschafter im Vatikan, Noel Fahey, soll damals US-Vizebotschafterin Julieta Valls Noyes sein Leid geklagt haben. Für Fahey war demnach nicht der Missbrauchsskandal selbst, sondern das Agieren des Vatikans dabei „die schwierigste Krise, die er je bewältigt“ habe. Die Kirchenleute hätten „Respekt für die Souveränität des Vatikans“ über alles andere gestellt.
„Anfragen einfach ignoriert“
Faheys Stellvertreterin Helena Keleher habe zudem gemeint, dass der Vatikan „die Dinge schlimmer gemacht habe, indem er die Anfragen einfach ignoriert hat“. Der im November 2009 veröffentlichte Murphy-Bericht prangerte an, dass in Irland katholische Würdenträger jahrzehntelang Vergewaltigungen und Misshandlungen von Minderjährigen vertuscht hatten.
Insgesamt war im Murphy-Bericht von 14.500 Missbrauchsopfern die Rede. Nach der Veröffentlichung des Berichts waren unter anderem auch in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Belgien und in Italien Missbrauchsskandale um katholische Geistliche bekanntgeworden. Papst Benedikt XVI. verurteilte die Vergehen wiederholt und traf Missbrauchsopfer.
Kardinal Bertone nur ein „Jasager“
Dem Papst wird in den US-Depeschen keine Verantwortung für die Vorgänge zugewiesen - denn laut Einschätzung der US-Diplomaten führt der Vatikan weitgehend ein Eigenleben, von dem der Papst nicht einmal etwas mitbekommt. Hauptverantwortlich dafür soll „Vatikan-Premier“ Bertone sein, ein „Jasager“ ohne jegliche Eignung für die Aufgabe, der vor allem dem Papst keine schlechten Nachrichten überbringen wolle.
Für die Diplomaten stellt sich überhaupt „die Frage, wer - wenn überhaupt irgendjemand - den Papst mit Widerspruch konfrontiert“. Noch schlimmer sei, dass Zusammenarbeit für die verschiedenen vatikanischen Institutionen ein Fremdwort sei. Deshalb seien etwa Debakel wie die als antimuslimisch aufgefasste Regensburg-Rede des Papstes und die Rehabilitierung des Holocaustleugners Richard Williamson geschehen.
„Ignorante“ und „technophobe“ Kardinäle
Dazu komme bei den Kardinälen noch „eine Mischung aus Ignoranz und Technophobie“ im Hinblick auf moderne Kommunikation, heißt es. Speziell ausgewiesen in den Depeschen wird deshalb etwa Vatikansprecher Federico Lombardi: Er sei der einzige Kirchenmann im Vatikan, der einen BlackBerry bedienen könne. Lombardi war auch der einzige, der auf die Enthüllungen reagierte.
In einer Presseaussendung wurden die Enthüllungen als „äußerst gravierend“ bezeichnet. Die Depeschen würden jedoch nur „die Meinung derjenigen widerspiegeln, die sie verfasst haben“, und seien keineswegs Ausdruck der Position der Heiligen Stuhls. Auch die Aussagen der Vatikan-Vertreter, die in den Depeschen zitiert sind, seien ungenau, ihre Zuverlässigkeit sei bestreitbar, hieß es.
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