Verlorene Generation
Jahrelang war der „keltische Tiger“ das wirtschaftliche Vorzeigeland der EU: geringe Arbeitslosigkeit und Hunderttausende Zuwanderer, die das rasante Wachstum Irlands noch beflügelten. Doch seit der Krise ist alles anders. Arbeitskräfte aus Osteuropa verließen das Land wieder – und mit ihnen viele junge und gut ausgebildete Iren. Nun droht dem Land eine neue Auswanderungswelle.
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Laut irischem Statistikamt verließen bereits zwischen April 2009 und April 2010 65.300 Menschen das Land. 28.000 davon waren irische Bürger, verglichen zu 18.400 im Vergleichszeitrum davor. Es war das erste Mal seit 13 Jahren, dass mehr Menschen Irland verließen als einwanderten.
Von EU-Erweiterung profitiert
Gemeinsam mit Großbritannien und Schweden hatte Irland 2004 den Arbeitsmarkt für Bürger der zehn neuen EU-Staaten geöffnet. Der Zustrom aus Osteuropa war enorm. Allein aus Polen wanderten geschätzte 200.000 bis 300.000 Menschen ein und befeuerten den wirtschaftlichen Aufstieg. Die Arbeitslosenquote blieb zwischen 2000 und 2008 stabil unter fünf Prozent.
Doch dann kam die Krise. Mittlerweile liegt die Arbeitslosenrate bei rund 14 Prozent. Dass sie nicht noch höher liegt, führen Experten darauf zurück, dass eben viele Menschen aus Osteuropa wieder in die Heimat zurückgekehrt sind.
Keine Perspektiven
Doch es sind nicht nur sie, die gehen. Vor allem junge Iren sehen in ihrem Land keine Perspektive mehr. Studierendenvertreter schätzen, dass 1.250 Studierende pro Monat das Land verlassen. In den nächsten fünf Jahren könnten es insgesamt 150.000 sein, heißt es im „Guardian“. Sie beklagen, dass der Staat die Jungen vergessen hat, während er versucht, die taumelnden Banken zu retten. Um Einnahmen zu lukrieren, wurden die Studiengebühren dramatisch angehoben. Für Universitätsabsolventen auf Jobsuche sieht die Lage noch schlimmer aus.
Schuldenfalle hält Menschen in Irland
Das irische Institut für Wirtschafts- und Sozialforschung korrigierte seine Schätzung für das laufende Beobachtungsjahr nach oben. Von April 2010 bis April 2011 rechnete man mit 60.000 Auswanderern. Für die nächsten zwei Jahre schätzt das Institut die Zahl auf 100.000.
Experten sagen, diese Zahlen würden noch viel höher sein, wenn man bedenkt, dass viele Leute aufgrund der Schuldenfalle, in der sie bereits stecken, das Land nicht verlassen können: Ihre Hypothekenlast sei bereits höher als der Preis, den sie für ihr Haus noch bekommen würden. Aus diesem Grund würden auch viele Familien zerrissen: Einzelne Familienmitglieder würden ins Ausland gehen, andere zurückbleiben, um die Schulden zu begleichen.
„Senkt die Arbeitslosigkeit“
Die irische Regierung dürfte die Auswanderung fast zynisch sehen: „Auswanderung wird die Geschwindigkeit des Wachstums des Arbeitskräfteangebots dämpfen, in Kombination mit einem Anstieg der Beschäftigung wird das die Arbeitslosigkeit im Vorhersagezeitraum unter zehn Prozent senken“, zitiert das „Wall Street Journal“ einen Bericht des irischen Finanzministeriums.
Anders gesagt: Je mehr Leute auswandern, desto weniger Arbeitslose gibt es. Interessanterweise argumentierte seinerzeit Polen auf dem Höhepunkt seiner Auswanderungswelle ähnlich, erst Jahre später machte sich der Fachkräftemangel deutlich bemerkbar und Kampagnen zur Rückholung wurden gestartet.
Braindrain und Konsumeinbruch
Kritische Stimmen sehen das freilich anders. Junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte waren auch ein Faktor des Aufstiegs. Ein Exodus und der damit einhergehende Braindrain seien schwer zu verkraften. Um irgendwann die ökonomische Kehrtwende und wieder Aufschwung zu schaffen, bedürfe es gerade der Fachkräfte. Irland ist zudem ein besonders junges Land. Der Altersschnitt liegt bei 35 Jahren. Zum Vergleich: In Österreich ist das Durchschnittsalter 42, im EU-Schnitt sind es 39 Jahre.
Nicht zuletzt stelle bei 4,5 Millionen Menschen Gesamtbevölkerung die Abwanderung von Zehntausenden potenziell auch gut verdienenden Jungen einen massiven Einbruch beim privaten Konsum dar. Und auch vor Traditionen macht der Trend nicht halt: Die Lokalzeitung „The Kingdom“ beklagte zuletzt, dass seit Jahresbeginn 200 Spieler der Nationalsportarten Hurling und Gälischer Fußball dem Land den Rücken gekehrt hätten.
Keine Rückkehr?
Zudem wird berichtet, dass sich auch die Destinationen der Auswanderer verändert hätten. Waren früher die USA und Großbritannien die Hauptziele, treibe die Krise dort die Iren noch weiter weg, etwa nach Kanada, Australien und Asien.
Ob die Auswanderer je wieder zurückkehren, bezweifeln die Experten mit Verweis auf die irische Geschichte, die einige Auswanderungswellen kennt. Die größte war während der großen Hungernot Mitte des 19. Jahrhunderts. Rund 1,5 Millionen Iren verließen damals das Land. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg und in den 1980er Jahren gab es große Emigrationsbewegungen. Kleinere Rückkehrwellen gab es aber nur in den 70er Jahren und während des Booms nach 2000.
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