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Hitlers „hypnotische Wirkung“

Vor 65 Jahren, am 20. November 1945, begann der Nürnberger Prozess gegen 22 Hauptkriegsverbrecher des Nationalsozialismus. Der gebürtige Wiener Siegfried Ramler war persönlich dabei: „Ich verbrachte viel Zeit mit Göring, Keitel und Ribbentrop“, erzählte der 86-jährige frühere Dolmetscher diese Woche bei der Präsentation seiner Autobiografie am Institut für Zeitgeschichte in Wien.

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Besonders interessant seien für den jungen Übersetzer die vorbereitenden Verhöre vor Beginn der Verhandlung gewesen. In einem kleinen Verhörzimmer sei der Angeklagte lediglich einem Vertreter der Anklage sowie einem Übersetzer gegenübergesessen. „Die Angeklagten sprachen hier ganz frei und spontan, denn ihre Aussagen waren noch nicht von den Verteidigern strategisch gefiltert“, so Ramler, der bis zum Anschluss 1938 in der Wiener Leopoldstadt lebte und mit einem Kindertransport nach England gelangte.

Freiwillig als Dolmetscher gemeldet

Gegen Kriegsende meldete sich der jüdische Österreicher freiwillig als Dolmetscher für die alliierten Truppen und kam so mit einem US-Bataillon nach Deutschland. Als er von den geplanten Kriegsverbrecherprozessen erfuhr, reiste er entgegen einem Befehl nicht nach England zurück, sondern eigenständig nach Nürnberg, wo er sofort als Dolmetscher engagiert wurde.

„Schockierend war für uns die hypnotische Wirkung, die Hitler anscheinend auf seine engsten Gefolgsleute gehabt hat“, erklärte Ramler, der sowohl die vorbereitenden Verhöre als auch den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und die zwölf Nachfolgeprozesse zwischen 1945 und 1949 am Nürnberger Justizpalast miterlebt hat. „In den Verhören schilderte der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, wie oft er fest entschlossen gewesen sei, Einspruch gegen Hitlers Pläne zu erheben, in seiner Gegenwart aber nie mehr fähig gewesen sei, etwas vorzubringen“, erzählte Ramler.

Der Beginn des Simultandolmetschens

Wegweisend waren die Nürnberger Prozesse nicht nur für das heutige Völkerrecht, sondern auch für die Praxis des Dolmetschens. Bei den Verhandlungen sei nämlich die Technik des Simultandolmetschens eingeführt worden, die Göring laut Ramler mit den Worten kommentiert habe: „Diese Methode ist sehr effizient, aber sie wird mein Leben verkürzen.“ Bei dem gigantischen Verfahren, dessen Protokoll 15.000 Seiten in 22 Bänden umfasst, wäre das bis dahin übliche konsekutive Dolmetschen unmöglich gewesen, da es den Prozess, der in vier Sprachen abgehalten werden musste, gewaltig in die Länge gezogen hätte. Während des Prozesses übersetzten zwölf Dolmetscher simultan in die Sprachen Englisch, Französisch, Russisch und Deutsch.

Buchhinweis

Siegfried Ramler: Die Nürnberger Prozesse: Erinnerungen des Simultandolmetschers Siegfried Ramler, 194 Seiten, Meidenbauer Verlag 2010, 32,90 Euro.

Einer der letzten Zeitzeugen des Tribunals

Ramler, der einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen dieses Tribunals ist und heute auf Hawaii lebt, weiß in seinem Buch viele Anekdoten über die Vertreter der nationalsozialistischen Führung zu erzählen. So beobachtete der Übersetzer beispielsweise, wie der für seine Eitelkeit bekannte Göring über den dokumentierten Kunstraub in den besetzten Gebieten in großen Zorn geraten sei, während er beim Vorwurf grausamer Verbrechen gegen die Menschlichkeit ruhig auf der Anklagebank sitzen geblieben sei.

Oder wie Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, der sich auf eine Amnesie berief, seine Freunde und engsten Verwandten nicht erkannte, zu Prozessbeginn seine Erinnerung aber plötzlich wiedergekehrt sei.

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