„Du Dummerchen“
Am Samstag vor genau 100 Jahren ist der gefeierte russische Autor Leo Tolstoi im Alter von 82 Jahren verstorben, nur zehn Tage, nachdem er sich von seiner langjährigen Ehefrau Sofja Andrejewna Tolstaja getrennt hatte. Nun liegt der Briefwechsel der beiden auf Deutsch vor - eine Lektüre, die Ihresgleichen sucht.
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Der 1828 geborene Graf Leo Nikolajewitsch Tolstoi war in jungen Jahren ein Schwerenöter. Einer Bäuerin hängte er ein Kind an. Wenn es etwas zu feiern gab, fehlte Tolstoi nie, zudem trank und spielte der zu Depressionen neigende Adelige exzessiv. Stets jedoch plagte ihn schlechtes Gewissen, weil seine moralischen Ansprüche eigentlich hoch waren. Zur Selbstkasteiung zog er gar mit der Armee in den Kaukasus-Krieg. Doch nichts half.
Neben bäuerlicher Arbeit hoffte er sich durch eine Heirat aus dem Dilemma zu retten und ging deshalb auf die Suche nach einer Frau. Im Alter von 34 ehelichte Tolstoi die 18-jährige Sofja. Sie entstammte einer befreundeten Arztfamilie, die im Kreml residierte. Es war die große Liebe für beide, und sie hielt trotz immenser Differenzen und Belastungen bis zuletzt kaum vermindert an.

AP
Das Haus der Tolstois in Jasnaja Poljana
Falsch verstandene Ehrlichkeit
Tolstoi war oft von zu Hause weg, deshalb schrieben er und seine Frau einander häufig. Oft drehte sich die schriftliche Konversation um Alltägliches. Tolstaja nahm die Korrekturen der Werke ihres Mannes vor, „Krieg und Frieden“ etwa schrieb sie sechsmal ins Reine. Zudem verwaltete sie die Familiengüter. Von Anfang an, schon in seinen ersten Briefen, zeigte sich Tolstoi respektlos gegenüber Sofja, indem er sie und ihr Denken „einfach“ und „oberflächlich“ nannte und ihr die praktische Arbeit völlig alleine überließ - auch wenn er sich höflich interessiert daran zeigte.
Aus Briefen von Tolstoi: „Neben der Liebe zu Dir und den Kindern (ich empfinde allerdings noch wenig Liebe für sie) gilt meine Liebe und Sorge meiner Schriftstellerei.“
„(...) Du Dummerchen mit Deinen ‚nicht allzu hochgeistigen‘ Interessen.“
Mit der Heirat wollte Tolstoi nicht nur das Lotterleben hinter sich lassen, sondern auch Lug und Trug, was dazu führte, dass er seine Frau mit vermeintlicher Ehrlichkeit quälte. Gleich zu Beginn der Beziehung gab er der verstörten 18-Jährigen seine Tagebücher zu lesen, in denen sämtliche Schweinigeleien minuziös aufgelistet waren. Sofja sollte sich nie ganz davon erholen. Nach der Familiengründung eröffnete er ihr dann, für die gemeinsamen Kinder kaum Liebe aufzubringen. Ein schwerer Schlag für die damals Zwanzigjährige, die dennoch, dem Wunsch ihres Gatten entsprechend, weiterhin im Abstand von ein bis zwei Jahren schwanger werden sollte.
Brief von Sofja Tolstaja: „Bleib nur lange dort, ohne mich geht es Dir besser. Mein Kleiner ist immer noch krank. Doch Dich interessiert dies ja nicht. Die Kleinen gehören ausschließlich zu mir, und deshalb möchte ich keine weiteren mehr haben. Ganz vergebliche Leiden - und wenn das Leben schon getrennte Wege geht, so soll es auch getrennt sein. Ich möchte Dich an der empfindlichsten Stelle treffen, wenn Du nur wüßtest, wie ich jeden Abend weine, wenn ich nach einem Tag, an dem ich mich für das leibliche Leben, wie Du es nennst, aufgerieben habe, allein wiederfinde, mit all meinen Gedanken und Sehnsüchten.“
Tolstois Selbstenteignung
Tolstois Plan war, dem Besitz gänzlich zu entsagen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er die gesamten materiellen Güter der Familie an Bedürftige verschenkt und wie ein Bauer gelebt. Wobei er das leicht sagen konnte, weil er wusste, dass seine Frau es nicht zulassen würde. 16-mal war sie schwanger, 13 Kinder brachte sie lebend zur Welt. Fünf von ihnen starben, bevor sie das Schulalter erreichten. Sämtliche eigenen Interessen wie das gesellschaftliche Leben Moskaus, das eigene literarische Schaffen und die Musik hatte sie hintangestellt.
Dass ihre verbliebenen Sprösslinge nun ohne ordentliche Bildung in ärmlichen Verhältnissen aufwachsen sollten, konnte und wollte sie nicht zulassen. Schließlich überschrieb Tolstoi den gesamten Besitz ihr und den Kindern, damit zumindest er selbst auf dem Papier arm war. In der Praxis sah das so aus: Im Bauerngewand saß er auf der Veranda des Guts seiner Frau, ließ sich von ihren Dienstboten bedienen und empfing seine Anhänger, die selbst in Kolchos-ähnlichen Kommunen nach seinen Prinzipien wohnten.
Ständige Vorhaltungen
Sofja musste seine ständigen Vorhaltungen ertragen wegen ihres vermeintlichen Schickerialebens. Dabei verbrachte sie die meiste Zeit nicht auf Empfängen in Moskau, sondern stillte sich auf dem Anwesen der Familie in Jasnaja Poljana die Brüste wund, ließ sich von ihren pubertierenden Kindern beschimpfen und musste Tolstois Anhänger ertragen.

Hanser Verlag
Buchhinweis
Für alle, die sich mit dem Werk Tolstois beschäftigen wollen, bietet Hanser eine Neuübersetzung von „Krieg und Frieden“. Barbara Conrad hat sich dieser titanischen Aufgabe gestellt und damit nicht nur einen neuen Blick auf Tolstoi und seine Sichtweise der Napoleonischenn Kriege möglich gemacht. Die über 2.000-seitige Ausgabe ist auch mit zahlreichen Fußnoten und Hintergründen ausgestattet, welche die historische Einordnungen erleichtern.
Lew Tolstoi: Krieg und Frieden. Aus dem Russischen von Barbara Conrad. Hanser, 2.288 Seiten, 59.70 Euro.
Aus Tolstois Sicht sah das freilich ganz anders aus. Er entwickelte sich geistig weiter und erkannte zusehends, dass nur deshalb einige wenige in absurdem Reichtum leben können, weil viele andere in Armut gehalten werden. Er wollte dieses System sprengen - aber nicht durch Gewalt, sondern durch vorbildhaftes Wirken. Ehrliches Christentum war sein Ansatz, der ihm die Exkommunikation der orthodoxen Kirche einbrachte und der ihm die Zensurbehörde bei jeder Veröffentlichung auf den Hals hetzte.
Den Zaren beeindruckt, die Gattin nicht
Tolstoi hatte eine immense internationale Anhängerschar, sogar in Großbritannien gab es Kommunen von „Tolstoianern“. Sein Einfluss in Russland selbst war so groß geworden, dass sich nicht einmal der Zar traute, ihn des Landes zu verweisen, weil er sonst eine Revolution zu fürchten gehabt hätte. Nur im eigenen Haus konnte sich Tolstoi nicht durchsetzen. Seine Frau förderte jegliche künstlerische Arbeit ihres Mannes, sie kritisierte wie er die gesellschaftlichen Zustände und widmete sich wohltätigen Zwecken. Aber auf alles verzichten? Niemals.
Der Alltag wurde zur Qual, die Eheleute stritten ständig. Sie hielt ihm seine Vorhaltungen vor. Er ihr Oberflächlichkeit und Habgier. Ständig waren seine Verehrer anwesend, die Sofja gehörig nervten. Sie behielt ihre Abneigung nicht für sich. Bald war sie die meistgehasste Frau der Tolstoianer.
Trotz allem Leidenschaft
Trotz der grundsätzlichen Unmöglichkeit, glücklich zusammenzuleben, haben sich die beiden bis ins hohe Alter Leidenschaft erhalten. Große Liebe abseits von Höflichkeitsfloskeln, zwischen den Zeilen und explizit ausgesprochen. Die beiden waren voneinander vollkommen abhängig. Tolstoi wurde buchstäblich krank vor Eifersucht, als seine Frau für einen Musiklehrer zu schwärmen begann. Sie musste die Stunden aufgeben. Sofja wiederum machte sich stets große Sorgen wegen Tolstois Wehwechen, egal, wie nervenzerrüttend die beiden gerade gestritten hatten.
Kurz vor seinem Tod wurde der Konflikt unerträglich. Sofja kam dahinter, dass ihr Gatte die Rechte an seinen Büchern hinter ihrem Rücken heimlich der Allgemeinheit vermachen wollte. Dahinter stand der von ihr auf den Tod gehasste Tolstoianer Wladimir Tschertkow. Sie stellte ihren Leo, der bereits 82 Jahre alt war, vor die Wahl: Tschertkow oder ich? Tolstoi änderte sein Testament wie von Tschertkow vorgeschlagen. Das folgende Drama stand er nicht durch und verließ seine Frau nach 48 Ehejahren, um endlich wie ein armer Bauer zu leben.

Suhrkamp Verlag / Insel
Buchhinweise
Lew Tolstoj und Sofja Tolstaja: Eine Ehe in Briefen. Insel, 494 Seiten, 23,50 Euro.
Ursula Keller und Natalja Sharandak: Lew Tolstoi. rororo monographie, 158 Seiten, 9,20 Euro.
Ein letztes Aufbäumen
Doch auf der Reise zur Einsiedelei wurde Tolstoi schwer krank. Ein letzter, hoch dramatischer Briefwechsel zwischen den Eheleuten folgte. Sofja versuchte, sich das Leben zu nehmen. Leo blieb hart, er wollte nicht zurückkehren, zumindest nicht gleich. Dann lag Tolstoi im Sterben, aber Tschwertkow wollte Sofja nicht zu ihm vorlassen. Erst im letzten Moment, als der von ihr trotz allem so viel geliebte Griesgram bereits sein Bewusstsein verloren hatte, durfte seine Frau zu ihm.
Den turbulenten letzten Wochen vor Tolstois Tod widmet sich der Film „Ein russischer Sommer“ (2010) mit Helen Mirren in der Rolle der Sofja, der bereits als DVD in Videotheken aufliegt. Für einen persönlichen Tolstoi-Schwerpunkt sei auch noch die von Ursula Keller und Natalja Sharandak hervorragend geschriebene, kompakte rororo-Monographie empfohlen. Vor allem aber können die Briefe der Tolstois (ebenfalls von Keller und Sharandak herausgegeben) wie ein packender Historien-, Liebes- und Metaliteraturroman gelesen werden. Zwei höchst intelligente Menschen streiten über die Liebe, die Politik und das Leben. Kein Wort hat hier an Aktualität oder Dringlichkeit eingebüßt. Man leidet mit und lernt.
Simon Hadler, ORF.at
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