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Ein Traum für Lobbyisten

Das britische Gesundheitssystem ist schwer defizitär, und die Regierung aus Konservativen und Liberaldemokraten, die mit einem „Budget Blitz“ die Sanierung der Staatsfinanzen plant, will gerade in diesem Bereich massiv einsparen. Gesundheitsminister Andrew Lansley setzte nun fünf Arbeitsgruppen ein, die neue Regeln für eine effizientere Gesundheitsvorsorge festlegen sollen.

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Die Zusammensetzung sorgt allerdings für große Aufregung. Wie die Zeitung „Guardian“ am Samstag berichtete, setzen sich die Gruppen zum Großteil aus Vertretern der Lebensmittelindustrie zusammen, darunter McDonald’s, Kraft Foods, Unilever, Kellogg’s und Pepsi. Mehrere Arbeitsgruppen werden sogar von den Industrievertretern, die als die Hauptverursacher der Probleme gelten, geleitet.

Diese sollen nun Maßnahmen vorschlagen, um die sich dramatisch verschlechternden Gesundheitswerte der Briten wieder zu verbessern. Für NGOs ist das nicht anders, als wenn die Regierung es der Tabakindustrie überlassen würde, sich selbst zu regulieren.

Pepsi leitet Kampf gegen Kalorien

Fünf Themengruppen gibt es: Jene, die sich mit dem Thema Alkohol befasst, wird demnach vom Chef des britischen Wein- und Spirituosenverbands geleitet. In der Lebensmittelgruppe, die sich Ernährungsproblemen wie Fettleibigkeit widmet, sitzen zahlreiche Vertreter der Fast-Food-Industrie. Die Untergruppe Kalorien wird gar von einem Pepsi-Mitarbeiter geleitet. Auch führende Supermarktketten sind laut „Guardian“ prominent vertreten. Die Gruppe Bewegung wird vom Chef des Dachverbands der privaten Fitnesscenter geleitet.

In ersten Sitzungen wurden die Industrievertreter aufgefordert, ihre Prioritäten zu nennen und Hürden - etwa in der EU-Gesetzgebung - zu benennen. Der Gesundheitsminister habe der Industrie versichert, dass er keine Gesetze plant, sondern auf Selbstverpflichtung der Branche setzt. Lansley habe außerdem ausgeschlossen, über höhere Preise für Alkohol und ungesunde Fertiggerichte den Konsum zu steuern, berichtete der „Guardian“.

Dringender Handlungsbedarf

Die Fälle von Fettleibigkeit verdreifachten sich laut „Guardian“ in den letzten 20 Jahren. Die Zahl der durch Alkohol bedingten Todesfälle verdoppelte sich in den letzten 15 Jahren. Ernährungsbedingte Erkrankungen belasten das Gesundheitssystem jährlich mit geschätzten sechs Mrd. Pfund (sieben Mrd. Euro), die Kosten für Alkoholmissbrauch belaufen sich demnach jährlich auf 2,7 Mrd. Pfund. Die Folgen von Bewegungsmangel summieren sich auf geschätzte 1,8 Milliarden jährlich.

NGOs: „Das funktioniert nicht“

NGOs, die sich in der Gesundheitspolitik engagieren, nehmen zwar an den Beratungen teil, viele von ihnen sind aber der Ansicht, dass um gesetzliche Regulierungen kein Weg herumführt, um den überhöhten Konsum von Junk Food und Alkohol einzubremsen. Manche Kritiker erhoffen sich, dass zumindest in Teilbereichen Verbesserungen erzielt werden können - etwa weniger Salz in den Mahlzeiten.

Ein Mitglied des Beratungsgremiums der Regierung in Sachen Übergewicht, Tim Lang, zweifelt daran, dass sich die Nahrungsmittelindustrie selbst regulieren kann. „Die Industrie kann beim Thema öffentliche Gesundheit bisher keine gute Bilanz vorweisen. Fettleibigkeit ist ein systemisches Problem und die Industrie ist darin gefangen, nur auf ihre eigenen Interessen zu schauen.“

Jeannette Longfield von der Kampagne Sustain fasst die Kritik am klarsten zusammen: „Das ist, als würde man der Tabakindustrie die Aufsicht über rauchfreie Zonen geben.“ Man wisse aus Erfahrung, dass die Methode „setzen wir uns alle an einem Tisch zusammen“ nicht funktioniere. „Das ist nicht ‚Big Society‘, sondern ‚Big Business‘.“

Verkehrte Welt

Lansleys Gesundheitsreform gilt auch als Testfall für den generellen Versuch der Torys, statt auf staatliche Eingriffe auf die Aktivitäten privater Organisationen und Selbstverpflichtungen von Konzernen zu setzen. Und die Kehrtwende wurde von den Torys von langer Hand vorbereitet. Denn bereits in der Opposition versammelte der damalige Schattengesundheitsminister Lansley eine Riege an hochrangigen Vertretern der Lebensmittelindustrie, die eine Gesundheitsstrategie für eine künftige konservative Regierung ausarbeiten sollte.

Ihre Vorschläge fließen nun offenbar direkt in die Arbeit der offiziell von der Regierug eingesetzten Arbeitsgruppen ein. Das geht laut „Guardian“ so weit, dass nicht - wie üblich - Beamten Papiere vorbereiten, die in den Arbeitsgruppen diskutiert werden. Im Gegenteil verfassen die Vertreter selbst Entwürfe, die dann von den Minsteriumsbeamten kommentiert und begutachtet werden. Mit anderen Worten: ideale Zustände für Lobbyisten. Ein hoher Industrievertreter bestätigte diese verkehrte „Arbeitsaufteilung“ und lobte die Regierung, dass diese damit anerkenne, dass Industrie und NGOs meist das bessere Know-how hätten.

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