Russlands Führungsrätsel
Manchmal sagt ein Stück Schokolade mehr als 1.000 Worte. Zumindest in Russland. So bekommt jeder der Gäste eines mehr als zweistündigen Treffens mit Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin in Sotschi eine Tafel Schokolade. Und der Blick auf das kunstvoll in den Riegel geprägte Motiv lässt einige der Russland-Experten des Valdai-Klubs vielsagend die Augenbrauen hochziehen - denn zu sehen ist auf Putins kleinem Präsent ein Bild des Kreml.
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Weil Kreml-Astrologen seit der Zaren- und Sowjetzeit aus kleinen Gesten große Schlüsse über die Macht- und Gunstverhältnisse im Riesenreich ziehen, scheint dies das letzte Indiz im aufziehenden Ringen um die Macht zu sein: Der Ministerpräsident will, so die vorherrschende Meinung, im Präsidentschaftswahlkampf 2012 wieder in den Kreml einziehen.
Über einen solchen Schritt spekulieren Russen und ausländische Regierungen seit dem Jahr 2008, als Putin nach den zwei erlaubten Amtszeiten in Folge den Weg für den heutigen Präsidenten Dimitri Medwedew frei gemacht hatte. „Ich denke, Putin bereitet seine Kandidatur vor“, sagt Timothy Colton, Russland-Spezialist der Harvard-Universität.
Wahlkampf längst begonnen?
Die Personalie gilt deshalb als so wichtig, weil sie als Richtungsentscheidung über den künftigen Weg der zweitgrößten Atommacht der Welt und des zentralen Energielieferanten Europas gilt. Vereinfacht ausgedrückt gilt Putin dabei als Vertreter eines eher autoritären Führungsstils, während man sich zumindest im Westen von Medwedew größere politische und wirtschaftliche Reformbereitschaft Russlands verspricht. Auch in Sotschi poltert Putin wieder los, dass einige Demonstranten eben verprügelt werden wollten.
Ohnehin haben viele Russen seit Wochen den Eindruck, dass der Wahlkampf längst begonnen hat. Putin wirbelt durch den größten Staat der Erde. Seit seine Umfragewerte durch die Brände um Moskau und das verheerende Krisenmanagement kurzzeitig absackten, ist er allgegenwärtig in den Medien. Im Flugzeug sieht man ihn als Kämpfer gegen die Feuersbrunst. Mal tröstet er alte Russinnen, mal betäubt er Wale, mal fährt er begleitet von einem Journalistentross in einem knallgelben Lada durch den fernen Osten des Landes.
„Menschen sind müde von den Ankündigungen“
Kein Wunder, dass für viele Russen der eigentliche Präsident Medwedew als immer schwächer erscheint. Seit längerem muss er sich vernichtende Urteile dafür anhören, dass sein vor einem Jahr mit großem Elan angekündigter Modernisierungskurs bisher wenig Ergebnisse gezeigt hat.
„Die Menschen sind müde von den Ankündigungen“, kritisiert der Liberale Wladislaw Inosemzew, Direktor des Zentrums für Postindustrielle Studien in Moskau. Auch nach zwei Jahren Amtszeit sitzt der Zweifel jedenfalls tief, ob sich Medwedew in einer Gesellschaft durchsetzen kann, die traditionell nach einem starkem Mann schielt und in der allein in Moskau mehrere Dutzend geltungsbewusste Milliardäre leben. Da hilft es wenig, dass ausländische Regierungschefs wie Angela Merkel demonstrativ Harmonie mit dem jungen Mann im Kreml zeigen und wenn russische Medien berichten, dass der Präsident den neuen Chef des Rohstoffriesen Rosneft ernannt habe.
Verzichtet Putin auf Kandidatur?
Als möglich gilt aber auch, dass Putin doch nicht wieder antreten wird, weil er sonst sein Lebenswerk verrät. Schließlich will der starke Mann Russlands in die Geschichtsbücher nicht nur als der Präsident eingehen, der das Land nach den Umbruchjahren unter Boris Jelzin wieder stabilisiert hat, sondern auch als einer, der dem Westen demonstriert, dass ein friedlicher, zumindest halb-demokratischer Machtwechsel möglich ist.
Deshalb glaubt der Chefredakteur der Zeitschrift „Russia in Global Affairs“, Fjodor Lukjanow, eher an eine zweite Amtszeit Medwedews. Eine dritte Option wäre laut Colton, dass Putin als Chef der Regierungspartei „Einheitliches Russland“ eine dritte Person für den Präsidentenposten aussucht.
Was der Dauerwahlkampf für das Land selbst bedeutet, ist noch nicht klar. „Russland kommt in eine unsichere Vorwahlphase mit sehr gemischten Signalen“, meint Lukjanow. „Die Arbeit wird wegen der heraufziehenden Wahlen schwieriger“, fürchtet die Gouverneurin von St. Petersburg, Valentina Matwienko, eine Putin-Vertraute, die 2008 als eine Kandidatin im Rennen um den Kreml-Posten galt.
„Russisches Tandem“
Die Kreml-Astrologen haben deshalb noch viel Zeit, zu rätseln und Schokoladentafeln zu deuten. „Und das Paar Putin-Medwedew wird so lange wie möglich sehr eng zusammen bleiben, weil beide wissen, dass ihr System sonst zusammenbricht“, sagt Lukjanow voraus.
Auch Putin hält sich demonstrativ bedeckt. Nichts sei entschieden, wiederholt er auf die sich häufenden Fragen nach 2012. Wie so oft kontert er auch in Sotschi mit einem Vergleich zum Ausland: „Das russische Tandem ist jedenfalls harmonischer als das neue britische“, scherzt er in Anspielung auf die neue Regierungskoalition aus Konservativen und Liberaldemokraten in London.
Andreas Rinke/Reuters
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