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Das Glück passt in einen alten Volvo

„Ein epischer Genuss, der süchtig macht.“ So steht es in deutschsprachigen Medien über Jonathan Franzens neuesten Großroman „Freedom“ zu lesen. Positiv bis hymnisch fallen die Kritiken aus, und selbst die strenge Michiko Kakutani von der „New York Times“ lobte vor allen anderen Franzens „galvanischen“ neuen Roman, so als müsste ein siechendes literarisches Feld auf das Kommen des Erlösers warten.

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Im Grunde führt Franzen zunächst eines vor: Wie man im Baukasten von Zutaten kramt, um anhand einer doch recht überschaubaren Gruppe von Leuten ein Gesellschaftspanorama auszufalten: Man nehme einen alten Volvo-Kombi, ein Mittelstandshaus in einer gentrifizierten Gegend, konstruiere einen modernen, aufgeklärten Mann mit schwedisch klingendem Nachnamen, der mit Bob Dylan die Kindheitsstadt teilt. Und ihm stelle man eine reizvolle Frau zur Seite, die zwar viel vom Leben weiß, am allerwenigsten aber, warum sie am Ende genau mit diesem Mann eine Ehe eingegangen ist. Und diesen Kontext rühre man im Amerika der Clinton- bis G. W.-Bush-Jahre mit zwei pubertierenden Kindern an, einer rüden Nachbarin, ihrem neuen Liebhaber - und einem Rockmusiker, der aus der Vergangenheit auftaucht und früher schon der beste Freund des Ehegatten war. Wer da nicht nach „Freedom“ schreit, dem ist nicht zu helfen.

Time Cover mit Jonathan Franzen

Time/ORF.at

Selten: Literaten auf dem Cover des „Time“-Magazine

Brüchige Konstruktionen

Patty und Walter Berglund sind so ein Paar, das eigentlich alles hat, was zum Glück gehört. Und doch zeigt sich: Je länger man auf ihr Leben schaut, desto mehr bricht die Tektonik des so wunderbar gemeinschaftlich gezimmerten Daseins. Franzen lässt die Geschichte der Berglunds zunächst aus dem Tratsch der Nachbarn entstehen und schafft damit einen großen Spannungsbogen. Das Wesen von Walter Berglund lässt sich für die Nachbarn in den Suburbs von St. Paul auf Grundlage von Beobachtungen leicht erklären. Doch nach dem abrupten Hausverkauf und den Umzug in den Osten kommen den Freunden von einst komische Gerüchte zu Ohren. Bevor Franzen sich daranmacht, das Rätsel zu lösen, lässt er Patty Berglund die Autobiografie ihres Lebens in dritter Person schreiben - was man als trivialen Kunstgriff abtun könnte. Doch der Autor sichert sich damit eine Erzählperspektive, die auf den engen Blickwinkel einer Person fokussiert bleibt, diese aber zugleich zwingt, in die Psyche ihres ganzen Umfeldes zu schlüpfen. In dieser Konstruktion, so die Suggestion, erfährt man mehr von der Wirklichkeit, als würde man sie 1:1 beobachten.

„So kompliziert ist das gar nicht“

„‚Ich weiß im Grunde nichts über Sex‘, gestand Walter. ‚Ach‘, sagte sie, ‚so kompliziert ist das gar nicht.‘ Und so begannen die glücklichsten Jahre ihres Lebens.“

Ein Autor, der seine Figuren liebt

Geschickt lagert sich der Autor in den Erzähler (konkret: die Erzählerin) und zugleich in eine seiner Figuren aus. Und weil Franzen eben kein bösartiger Autor ist, nähert er sich seinen Charakteren erneut mit Zuneigung und Verständnis, was sie aber ihrem Schicksal gegenüber noch viel hilfloser erscheinen lässt. Patty Berglund, geborene Emerson, ist etwa eine Person, die man gut verstehen kann. Über ihre in der Politik agierende Mutter und den in Gesellschaft zu brachialem Sarkasmus neigenden Vater bekommt sie alle Ränkespiele des intellektuellen Lebens mit. Sie hat den Feminismus rezipiert, schwere Kämpfe mit ihren von den Eltern bevorzugten Schwestern geführt, so dass ihr genau jene gesellschaftlichen Rollen interessant erscheinen, die vor allem die Distanz zum Elternhaus versprechen: also das Schicksal einer in der Vorstadt lebenden Mutter. Größere Ambitionen kann sie für sich mit dem selbstbewussten Satz, sie hätte eben keine Lust darauf, abtun.

Patty ist die talentierteste Basketballerin auf ihrem College. Männererfahrungen macht sie zunächst unfreiwillig (eine Vergewaltigung eines Schulkollegen versuchen ausgerechnet ihre liberalen Eltern mit Verweis auf den gesellschaftlichen Status der anderen Familie herunterzuspielen), und später hält sie sich zu dem bei Franzen ebenfalls um Identität ringenden (gar nicht so) „starken Geschlecht“ auf Distanz. Sogar in Pattys Familie denkt man, die Tochter könnte lesbisch sein.

„Er machte es wirklich nett“

„Walters Wangen waren rosiger denn je. Draußen vor dem Busbahnhof, in der nach Zigaretten stinkenden Spritschleuder seines Vaters, schlang Patty die Arme um seinen Hals und wagte den Sprung herauszufinden, wie er küsste, und war mehr als zufrieden, denn er machte es wirklich nett.“

Richard Katz oder Walter Berglund?

Patty ist zunächst stark bezogen auf ihre Freundin Eliza, die ihre Heroin-Abhängigkeit als Form der Leukämie samt entsprechender Selbsttherapie zu tarnen vermag - und sie schnappt Patty die Männer weg, zu denen diese ja immer nur höchst halbherzige Annäherungen sucht. Schließlich stehen zwei Kerle vor Patty: der Musiker Richard Katz mit dem Hang zum Charakterschwein. Und Walter Berglund, der Multitasker, dessen Schlafmangel dem Wunsch zur Verbesserung der Welt und seinen katastrophalen Familienzuständen geschuldet sind (seine Eltern unterhalten ein siechendes Motel in der Dylan-Stadt Hibbing). Wenig verwunderlich, dass Patty zunächst die Nähe des Trashrockers Richard sucht und nicht die Walters, der immer treu am Spielfeldrand Pattys Basketballeinsätze beobachtet. Doch bei einer Reise nach Chigaco entpuppt sich der Egomaniac Richard in einer Hinsicht als treu: Er ergreift für Walter das Wort und rät der „Tusse“ Patty, sie solle sich endlich entscheiden, was sie wolle und sich zu Walter bekennen.

Nur die schlechte Behandlung durch Richard bringt Patty zu Walter zurück. Als Walter nach Pattys Rückkehr zu Ansätzen von Eifersucht fähig ist, steigert sich das Interesse, das zwangsläufig in der Ehe münden muss.

Erschütterte Seelenruhe

„Es erschütterte die Seelenruhe, in der sie hergekommen war, um sich in die Arme des Mannes zu werfen, der körperlich nicht den gleichen Reiz ausübte wie sein bester Freund.“

Wir gründen eine Familie

„Wir gründen unsere eigene Famile“, wird Walter sagen, als Patty wieder mal an ihrem exzentrischen Elternhaus scheitert. Und so kommt es, dass Lebenspragmatik und gefühltes Glück eng aneinander wohnen. „Armer Walter“, schreibt die Autobiografin Patty als Erzählerin in der dritten Person zur Weichenstellung ihrer beider Leben: „Zuerst hatte er aus dem Gefühl heraus, seinen Eltern finanziell verpflichtet zu sein, seine Schauspielerei und Filmemacherträume an den Nagel gehängt, und kaum hatte sein Vater ihn in die Freiheit entlasen, indem er starb, tat Walter sich mit Patty zusammen und hängte im Tausch gegen eine Anstellung bei 3M seine Weltrettungsambitionen an den Nagel, damit Patty ihr fabelhaftes altes Haus bekommen und daheim bei den Kindern bleiben konnte. Das Ganze geschah fast ohne Diskussion. Er begeisterte sich für die Pläne, die sie begeisterten, er stürzte sich auf die Renovierung des Hauses und die Aufgabe, sie gegen Pattys Familie zu verteidigen.“

Ab diesem Punkt erweist sich Franzens große Stärke. Der vom Verhalten der Otter begeisterte Autor schaut mit einer Präzision auf das Innenleben seiner Charaktere, auf ihre angestrengten Rebellionen und zugleich auf die Schwierigkeit, dem Leben eine entscheidende Wende zu geben. Nicht umsonst siedelt Franzen seine Charaktere in einem sozialen Milieu an, das in der Lage ist, die eigene Rolle auf mehreren Ebenen zu reflektieren. Doch all das nutzt wenig auf den Lebensbaustellen, die man sich ja selbst eingerichtet hat. Ohne Sarkasmus blickt Franzen mit seinen Helden zurück auf jene Momente, in denen das Leben in den Bruchteilen von Augenblicken auch eine ganz andere Wendung hätte nehmen können.

Freiheit oder Rebellion?

„Freiheit“ kann man als Micro-Kulturgeschichte der USA in Zeiten erwachenden Öko-Bewusstseins lesen. Man mag das Werk aber auch als Traktat sehen über den Unterschied zwischen den Prinzipien Freiheit und Rebellion. Freiheit kann nur auf der Grundlage großer Entschlusskraft gedeihen, die Rebellion dagegen braucht zunächst ein Gegenüber, an dem man sich über die Jahre hinweg abgearbeitet hat.

Pattys Weg führt, neben der reflektierten, in der Praxis aber dann doch unkritisch ausgelebten Liebe zu ihrem Sohn Joey, noch einmal zu Richard. Sie bekommt ihre Affäre. Aber nicht die Freiheit, nach der sich ihr Unbewusstes sehnen mag. Am Ende haben wir alle unseren Weg sehr früh angelegt, scheint Franzens Erzählung zu sagen. Mit Rebellion, die in Gestalt von Freiheit auftritt, kommen seine Helden nicht voran. Rebellion macht sie am Ende einsam.

Das Buch:

Jonathan Franzen: Freedom, übersetzt von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld, 736 Seiten, Rowohlt, 25,70 Euro.

Buchcover

Verlag Rowohlt

„Wenn wir Freiheit zum entscheidenden Maßstab für unsere Kultur und unsere Nation erklären, sollten wir sorgfältig prüfen, was uns Freiheit überhaupt bringt“, erklärte Franzen vor dem Erscheinen des Buches, an dem er neun Jahre geschrieben hat, im „Time“-Magazin. „Was war noch gleich schlecht an Dave Mathews?“, fragt Patty ihren Mann in einem Streitgespräch über Musik. „Eigentlich alles, abgesehen vom technischen Können“, wird Walter entgegnen: „Aber vielleicht besonders die Banalität der Texte. Gotta be free, so free, yeah, yeah, yeah. Can’t live without my freedom, yeah, yeah. So geht praktisch jeder Song.“

Gerald Heidegger, ORF.at

Links:

Franzens Freedom bei Rowohlt
Jonathan Franzen (Wikipedia)
„Time“-Artikel über Franzen