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Selbstverantwortung als neues Zauberwort

Die neue britische Regierung von Konservativen und Liberaldemokraten hat sich nun eine Reform der Gesundheitspolitik vorgeknöpft. Selbstverantwortung ist die neue Losung. Einen Vorgeschmack lieferte kürzlich Gesundheitsstaatssekretärin Anne Milton: Sie regte an, dass Übergewichtige in Krankenhäusern und von Ärzten „fett“ genannt werden sollen - und löste damit eine Kontroverse aus.

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Milton, eine ehemalige Krankenschwester, hatte gegenüber der BBC gemeint, das Wort „fett“ würde die Leute eher motivieren, abzunehmen. In den vergangenen Jahren hatte sich im englischsprachigen Raum der medizinische Ausdruck „obese“ (also „adipös“) für Menschen mit einem Body-Mass-Index von über 30 durchgesetzt.

„Selbstverantwortung anregen“

„Wenn ich in den Spiegel sehe und mir denke, ich bin adipös, macht mir das weniger aus, als wenn ich denke, ich bin fett“, meinte Milton gegenüber der BBC. Insofern sollten praktische Ärzte, aber auch der Nationale Gesundheitsdienst NHS wieder diesen Begriff verwenden.

Milton räumte ein, dass man in der NHS skeptisch sei, sie glaube aber, das rege die Selbstverantwortung der Menschen an. Im Endeffekt müsse man zwar Informationen bereitstellen, für die Übergewichtigen handeln könne man aber nicht – das müssten diese schon selbst tun.

Experten pro und contra

Steve Field, als Universitätsprofessor für die Ausbildung von Allgemeinmedizinern verantwortlich, überstützt den Vorschlag der Ministerin. Manchmal müsse man brutaler und ehrlicher sein. Der Begriff „obese“ sei zu medizinisch und klinge so, als ob es den Übergewichtigen gar nichts angehe.

Umgekehrt warnt Professor Lindsey Davies, Präsidentin der Faculty of Public Health, Patienten gegenüber das Wort „fett“ zu verwenden. Als „fette Person“ sei man mit vielen Makeln behaftet. Und schließlich habe man den Begriff „obese“ nicht ohne Grund eingeführt. Fettleibigkeit sei etwas, das Leuten passiert, und nichts, was man ist – damit sei es veränderbar.

Übergewicht nimmt überhand

Erst im Juni hatte eine Studie belegt, dass britische Kinder mit 372 Pfund (593 Euro) pro Jahr mehr als doppelt so viel Geld für Süßigkeiten ausgeben wie US-amerikanische. Ähnliches gilt bei Ausgaben für Chips und Knabbergebäck. Schon jetzt sind mehr als ein Drittel der britischen Kinder zwischen fünf und 13 Jahren zumindest übergewichtig, Tendenz steigend.

Eine andere Studie hatte bereits zuvor errechnet, dass bis zum Jahr 2020 mehr als 80 Prozent der Männer und knapp 70 Prozent der Frauen in Großbritannien zu viele Kilos auf die Waage bringen werden. Die Hälfte von ihnen wird laut Wissenschaftlern vom National Heart Forum übergewichtig, die andere Hälfte sogar fettleibig sein. Gewarnt wird vor einem rapiden Anstieg von Schlaganfällen, Diabetes, Bluthochdruck und Herzerkrankungen.

Beleidigung als Therapieform?

Auch in den Zeitungen wird der neue Vorstoß kontroversiell debattiert. „Fett“ sei die Sprache von Schulhofschlägern und rachsüchtigen Ex-Partnern, eine Sprache, die darauf abzielt, dass sich jemand schämen muss, heißt es etwa im „Guardian“. „Fett“ heiße genauso faul, hässlich und gefräßig. Das Wort „obese“ sei hingegen mit allen Folgeerscheinungen wie Diabetes und Herzkrankheiten verbunden. Ob „fett“ da tatsächlich das Wort sei, mit dem Übergewichtige eher zu handeln beginnen, sei zu bezweifeln. Beleidigungen als Therapieform zu verwenden, sei jedenfalls eine riskante Angelegenheit.

Grundlegender Wechsel der Politik

Vielleicht ist die Beleidigung von Menschen, wenn man sie „fett“ nennt, auch nur ein weiteres Beispiel für den Stil der neuen Koalition in Sachen Offen- und Direktheit, heißt es im „Guardian“. Und ins selbe Horn stößt auch der „Independent“, ansonsten gegenüber der neuen Regierung eher skeptisch eingestellt: In der alten Labour-Regierung sei niemandem direkt die Schuld für etwas gegeben worden: Lernschwache Schüler seien „herausgefordert“ gewesen, Arbeitslose hätten nur einen „Neustart gebraucht“.

Und Fettleibigkeit sei ein Zustand, der plötzlich von irgendwoher eingetreten sei, und bei dem der Staat den Patienten an der Hand nehme und ihm mit Flugblättern, Gutscheinen und ein paar Belohnungen beistehe. Gebracht habe diese Politik aber nichts.

Genau das ist auch das Argument der konservativ-liberalen Regierung. Staatliche Kampagnen, wie sie Labour noch im großen Umfang gestartet hatte, gehören wohl der Vergangenheit an. So seien etwa Kampagnen wie jene für gesundes Essen in Schulen, die auch von Starkoch Jamie Oliver unterstützt wurde, nur dozierend, meinte etwa Gesundheitsminister Andrew Lansley. Im Herbst will die Regierung einen neuen, umfassenden Gesamtplan vorstellen - und die Stoßrichtung ist spätestens mit der Debatte rund um Fettleibigkeit klar: Für seine Gesundheit soll zu allererst jeder selbst verantwortlich sein.

Links:

Britisches Gesundheitsministerium
BBC-Bericht
„Guardian“-Kommentar
„Independent“-Kommentar