Freier Markt soll den Hunger bekämpfen
Indien wird im Westen in den letzten Jahren vor allem wegen seines rasanten Wirtschaftswachstums und als wichtiger IT-Standort wahrgenommen. Das Schwellenland gilt als weltweiter Konjunkturmotor und eine der großen Zukunftshoffnungen. Doch nur eine kleine Minderheit der Inder profitiert von dieser Entwicklung.
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Für den Großteil der indischen Bevölkerung ist der Alltag weiter erschreckend trist und vom Kampf ums Überleben geprägt. Denn in kaum einem Land der Welt sind Hunger und Armut ein drängenderes Problem als in Indien. Der Kampf gegen den Hunger ist seit der Staatsgründung im November 1949 eine der wichtigsten Aufgaben der indischen Regierung. Doch in den letzten Jahren wurde das Problem immer öfter in den Hintergrund geschoben.
Die von der Kongresspartei geführte Regierung unter Premierminister Manmohan Singh erklärte den Kampf gegen den Hunger zuletzt wieder zu einem der zentralen Ziele. Erste Entwürfe für grundlegende Reformen der zahlreichen staatlichen Nahrungsmittelprogramme gibt es bereits. Die beiden wichtigsten Punkte: Das Recht auf Nahrung soll demnach als Grundrecht in der Verfassung verankert werden. Und zugleich soll das aktuelle System, das unter Korruption und Missbrauch leidet, völlig umgekrempelt werden.
Die Dimension der Armut:
- Indien hat den höchsten Anteil weltweit an unterernährten Menschen
- 47 Prozent der Kinder sind mangelernährt
- Jede dritte Frau ist untergewichtig
- 3.000 Kinder sterben pro Tag an Hunger und Unterernährung
- 42 Prozent müssen mit weniger als 1,25 US-Dollar (0,76 Euro) täglich auskommen
- In acht indischen Bundesstaaten leben mehr arme Menschen als in den 26 ärmsten Staaten Afrikas
Drei Viertel der Mittel versickern
Manche Schätzungen gehen davon aus, dass derzeit im Schnitt nur ein Viertel der Mittel tatsächlich bei den Bezugsberechtigten ankommt. Das größte Problem dabei: Viele der Mittel, vor allem Reis und Getreide, werden offensichtlich von korrupten Beamten abgezweigt und am Schwarzmarkt weiterverkauft. Dazu kommt, dass es indienweit keine einheitliche Regelung gibt. Wer bezugsberechtigt ist und wie viel Reis oder Getreide die Familie bekommt, ist von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden.
Derzeit können Familien mit einer von der Behörde ausgestellten Bezugskarte monatlich gewisse Pro-Kopf-Mengen an Getreide oder Reis in staatlichen Verkaufsstellen beziehen. Nun ist geplant, das System zu liberalisieren: Die staatlichen Verkaufsstellen sollen abgeschafft werden.
Bargeld gegen Korruption?
Stattdessen soll es künftig entweder Bargeld oder Kupons geben, mit denen Reis und Getreide zu einem subventionierten Preis in regulären Geschäften gekauft werden können. Die Regierung erhofft sich dadurch ein Ende der Korruption, mehr Effizienz, Ersparnisse und vor allem, dass die Hilfe wirklich bei den Bedürftigen ankommt.
Das indische Finanzministerium empfahl bereits in seinem jährlichen Wirtschaftsausblick im Februar, das bestehende System (Targeted Public Distribution System oder kurz TPDS) bis 2012 durch Lebensmittelmarken zu ersetzen. Erklärtes Ziel ist es, das Budget zu entlasten und den weitgehend staatlich regulierten Markt an Grundnahrungsmitteln zu liberalisieren.
Gefährliche Liberalisierung
Doch Kritiker warnen vor einem solchen Systemwechsel. Sie fordern vielmehr eine Ausweitung des Lebensmittelverteilungsprogramms, genauer: eine Rücknahme der Reform von 1997, mit der die Bezugsrechte für jene, deren Einkommen über der Armutsgrenze liegt, eingeschränkt wurde beziehungsweise sie seither deutlich höhere Preise zahlen müssen. Zahlreiche Studien hätten gezeigt, dass das die Tendenz zur Verarmung verstärkt habe, da mehrköpfige Familien in Metropolen allein für die Wohnkosten oft das gesamte Einkommen brauchen - auch wenn dieses über der Armutsgrenze liegt.
Auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit
Damit wurden effektiv landesweit rund 60 Prozent der früheren Bezieher aus dem Verteilungsprogramm ausgeschlossen. Der zusätzliche Finanzbedarf sei - verglichen mit den volkswirtschaftlichen Mehrkosten durch Unterernährung und Krankheit - gering, so die Wirtschafts- und Ernährungsexpertin Madhura Swaminathan.
Sie gibt in einem Bericht für die UNO zu bedenken, dass die Sparversuche bei den Ernährungsprogrammen der vergangenen Jahre zwecks Budgetkonsolidierung nur mit enormen sozialen und gesundheitlichen Kosten auf dem Rücken „einer Mehrheit der Bevölkerung und der nächsten Generation“ erkauft werden konnten.
Warnung vor Politmanöver
Kritiker warnen davor, dass die Regierung lediglich ein neues Täuschungsmanöver versuche. Die Kongresspartei Indira Gandhis wolle mit dem „Recht auf Nahrung“ die arme Bevölkerung bei den kommenden Wahlen für sich gewinnen.
Diese Bestimmung werde sich aber als wertlos erweisen, da bereits jetzt in der Verfassung die Pflicht des Staates, die Lebensmittelversorgung zu verbessern, enthalten sei. So wie die letzte Reform 1997 werde die Umstellung des Systems vielmehr zum genau gegenteiligen Effekt führen - dem vermehrten Ausschluss von Bevölkerungsschichten aus den Lebensmittelprogrammen.
Kleinbauern als Konjunkturmotor
Dies sei zudem ökonomisch völlig falsch gedacht, wie etwa R. V. Bhavani, Expertin für Nahrungssicherheit im Swaminathan Forschungszentrum von Chennai, in einem Artikel für Infochange India betont. In Indien seien Kleinbauern das Rückgrat der Landwirtschaft und rund 70 Prozent der Bevölkerung im Agrarbereich tätig.
Da dies die mit Abstand größte Gruppe an Konsumenten ist, sei ein mittel- und langfristiges Wirtschaftswachstum nur möglich, wenn die Landbevölkerung davon profitiert. Eine Studie der FAO habe gezeigt, dass Wachstum, das im Agrarsektor erwirtschaftet wird, den Armen mindestens doppelt so viel nützt wie Wachstum in anderen Sektoren - etwa der IT-Branche.
Große Träume, wenig Hoffnung
Der politische und ideologische Streit über den Kampf gegen den Hunger in Indien wird wohl nicht so rasch beendet werden. Doch auch wenn sich die Regierung in Neu Delhi zu dem radikalen Liberalisierungsschritt entschließen sollte, bleibt seine Umsetzung ungewiss und wird zumindest noch Jahre dauern.
Denn effektiv möglich ist die Umsetzung nur, wenn zuvor die - von Datenschützern bekämpfte - einheitliche elektronische Personalkarte landesweit eingeführt ist. Doch dafür haben eben die ersten Vorbereitungsarbeiten begonnen.
Die Leidtragenden stehen jedenfalls bereits fest: Die überwältigende Mehrheit der Inder, die weiter in bitterer Armut leben müssen. Sie können fast täglich neue Geschichten von rasanten Karrieren und Reichtum hören und lesen - selbst haben die wenigsetn von ihnen aber eine Chance auf wirtschaftlichen Aufstieg.
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