„Da packt mich der Missmut“
Karl-Markus Gauß über ein Europa, bei dem ihn mitunter das Grauen überkommt, und seinen heimlichen Plan, die EU neu zu gründen.
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ORF.at: „Im Wald der Metropolen“ führt viele lose Fäden Ihrer früheren Texte zusammen. Würden Sie von einer Synthese Ihres bisherigen Schaffens sprechen?
Karl-Markus Gauß: Ja und Nein. Natürlich ist dies ein Buch, in das viel von meinem über Jahrzehnte erworbenen Wissen eingeflossen ist, und in dem auch die literarischen Formen, Strategien und Genres, die ich in den letzten Jahren entwickelt habe, neuerlich erprobt und tatsächlich zusammengeführt werden. Insofern ist dieses Buch ein Abschluss von dem, was ich in den letzten 20 Jahren literarisch erprobt habe.
Andererseits ist dieses Buch auch etwas Neues für mich. Ich habe mit „Im Wald der Metropolen“ etwas versucht, was nur schwer zusammengehen kann: einerseits nämlich eine Kulturgeschichte Europas zu schreiben, voller subkutaner Zusammenhänge dort, wo man sie nicht vermutet, und mit historischen Verbindungen, die längst vergessen wurden. Und andererseits wollte ich diese Kulturgeschichte vollständig aus meinem subjektiven Erleben, aus meinen Erfahrungen beim Reisen durch Länder und Bibliotheken, meinen Erinnerungen an prägende Erlebnisse und an Gespräche heraus entwickeln.
Das heißt, es ging mir einerseits um etwas Objektives, das aber vollständig aus meiner Subjektivität heraus entsteht: Ich glaube, ich habe noch nie ein Buch geschrieben, in dem ich solche Felsbrocken an Bildung gewälzt habe, aber andererseits auch noch keines, in dem ich so persönlich zu Werke ging - bei den Journalen habe ich es natürlich auf andere Weise auch schon getan.
Das Buch hat für mich auch ein bisschen etwas von einem Bildungsroman, nämlich dem von meiner eigenen Bildung: Wie hat sich der Mensch, der ich bin, durch Bildungserlebnisse entwickelt und zu dem gemacht, als den er sich selbst einmal entworfen hat? Aber da es trotzdem kein „Roman“ ist, habe ich auf diesen vom Verlag ursprünglich vorgeschlagenen Untertitel verzichtet.
ORF.at: Das heutige Europa, kommt einem nach der Lektüre des Buches vor, ist das Produkt eines jahrhundertelangen Trial-and-Error-Projekts des Humanismus. Auf welchem Weg ist die EU mit ihrer Integrationspolitik: Error oder Fortschritt?
Ich habe lange zu den leidenschaftlichsten Herolden der Osterweiterung der EU gehört und musste dann sehen, dass gerade die Erweiterung der EU gen Osten ganz andere Ergebnisse gezeitigt hat, als ich mir das erhoffte. Die EU hat ein paar Fehler, die schon bei ihrer Geburt aufgetreten sind. Aber man wird sie nicht bessern, wenn man die Geburt ungeschehen zu machen versucht - denn dann würde das Kind nämlich nachträglich abgetrieben. Im Moment wirkt die EU, als wäre sie in keiner guten Phase, gerade deswegen wird sie aus ihr verbessert herauskommen. Ich meine damit nicht nur die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Probleme, die wir gerade haben.
Wenn ich mir vorstelle, was die vielbeschworenen europäischen Werte ausmacht, müsste man natürlich, wenn man an die sogenannten Sanktionen gegen die schwarz-blaue österreichische Regierung von anno dazumal denkt, längst wesentlich härtere Sanktionen ergreifen, und zwar, das ist das Traurige, gegen einige Kernländer der EU, etwa Italien, das inzwischen kein bürgerlich-demokratischer Staat mehr ist, aber auch gegen Beitrittsländer wie Ungarn, von dem das ausgeht, wovon wir überzeugt waren, dass es gerade die EU nie mehr ermöglichen wird, nämlich ein genuiner Faschismus.
Was ich gegen Griechenland habe, ist im Übrigen weniger das ökonomische Desaster, an dem gerade jene nicht Schuld haben, die jetzt mit Sparkursen die Zeche zu zahlen haben werden, sondern dass dieses Land niemals zu einer akzeptierenswerten Politik gegenüber ihren nationalen Minderheiten und erst gar gegenüber Flüchtlingen gekommen ist. Und so geht das weiter. Da packt mich manchmal der Missmut, und ich denke mir dann: „Man müsste die EU noch einmal neu gründen.“ Und wenn ich es rigoros sehe, kann ich sagen: So fünf, sechs Freunde habe ich auch schon, die dabei mitmachen sollten. Und auf diese würde sich das Projekt anfangs auch beschränken. Das hat natürlich keinen Sinn.
Wir stehen an einem Punkt der Entwicklung, an dem es nur ein Vorwärts und Weiter geben kann, was die Integration, den Ausbau der europäischen Zusammenarbeit betrifft. Mich schreckt ein europäischer Bundesstaat schon lange nicht mehr. In meinem Buch „Das Europäische Alphabet“ habe ich 1995 übrigens - ziemlich verlacht - geschrieben, dass es der Euro sein wird, der die Spaltung Europas bewirken wird.
Ich hatte für diese Vermutung damals zwar andere und falsche Gründe angeführt, aber tatsächlich hat die Krise der EU natürlich mit dem Euro zu tun: Wenn man verschiedene Volkswirtschaften, die auf ganz verschiedenem Stand der Entwicklung stehen und je verschiedene Steuersysteme haben, in eine Währungsgemeinschaft zusammenbringt, dann kann das nur gefährliche Folgen zeitigen: eine Form von innerem Kolonialismus innerhalb der EU zum einen, ein soziales und fiskalisches Dumping auf der anderen Seite. Ich bin für ein europäisches Steuer- und Abgabensystem. Und ich bin für mehr Europa, nicht für weniger.
ORF.at: Europäische Geschichte wird in den Schulen meist als Herrschafts- und Nationalgeschichte gelehrt. Ausgehend von Ihrem Buch: Wie könnte man jungen Europäern die Geschichte Ihres Kontinents alternativ vermitteln?
Die Geschichte einer Nation war immer von transnationalen Entwicklungen bedingt. Heute ist es geradezu kurios, wenn Politiker mehr nationale Befugnisse verlangen, die doch wissen müssten, dass im hintersten Dorf ihres Landes die ökonomische Situation von Entwicklungen geprägt ist, die ganz anderswo in Gang gesetzt wurden. Was wir brauchen, ist dennoch keine Selbstaufgabe im Sinne von: Da kann man nichts machen, die anonymen Prozesse reißen uns einfach mit. Es war ein Hauptfehler, nein, sogar ein Verbrechen, dass sich die EU als Vollstreckungsorgan dieses Neoliberalismus begriffen hat, dem sie alle administrativen, traditionellen, gewerkschaftlichen Hemmnisse aus dem Weg räumen wollte.
Was man den Europäern damit vermittelt hat, ist doch: Es bleibt uns keine Chance, die wirtschaftliche Dynamik ist etwas, dem man sich nur beugen kann. Nein, wir müssen sie beherrschen und nicht von ihr beherrscht werden. Das hieße europäische Politik.
Was die Jugend betrifft, so sind die nationalistischen Reflexe, die man da und dort von ihr mitbekommt, natürlich grotesk, denn diese Jugend ist in ihrem Sozialverhalten und ihrer alltäglichen Kultur so transnational verfasst wie vermutlich keine Jugend vor ihr. Man müsste es ihr nur anschaulich machen. Es ist ja natürlich nicht nur arg und nicht hinnehmbar, wenn Jugendliche in eine Disco gehen, dort sich hingerissen vom Rap und der Musik von Schwarzen gehen lassen, zugleich aber erschwerte Eingangsregeln in den Staat, in gewisse Berufe und in die eigene Disco für Schwarze verlangen. Es gibt ein schockhaftes Lernen, und ich hoffe, viele erleiden irgendwann diesen heilsamen Schock.
ORF.at: Spielen Nationalität, Religion und Volksgruppenzugehörigkeit und selbst die eigene Sprache nicht eine immer kleinere Rolle als identitätsstiftende Elemente für Menschen? Werden sie nicht zunehmend von der jeweiligen Rolle im internationalen Wirtschaftssystem und von den vielen Nischen internationaler Popkultur abgelöst?
Ich habe nicht den Eindruck, dass die Menschen auf ihre regionalen, nationalen Traditionen verzichten wollen. Das ist auch in meinem Konzept eines europäischen Bundesstaates keineswegs nötig. Das Beharren auf der spezifischen Kultur im Kleinen habe ich immer gerühmt. Andererseits ist es völlig richtig, wenn Sie sagen, dass die alltägliche Kultur der Menschen, gleich ob in Narvik, Torun, Salamanca oder Marburg, längst nicht mehr alleine oder auch nur hauptsächlich von den spezifisch national-regionalen Traditionen geprägt ist.
Die Popkultur war ja ein Schwert der Globalisierung, keine andere kulturelle Erscheinungsform hat es je so weit gebracht, die Welt bis in den hintersten Winkel zu durchformen, mit Gutem und Schlechtem. Aber ich sehe den Gegensatz nicht so manichäisch: Das eine kann vom anderen ja auch reicher werden, die Popkultur, indem sie sich dem Besonderen, Spezifischen öffnet - was ja da und dort ohnedies schon geschieht -, die vermeintlich ehrbare alte Kultur der Dörfer, Regionen, Nationalitäten hingegen, indem sie sich von der Welt nicht abschließt, sondern sich ihr öffnet - was da und dort auch schon längst passiert.
ORF.at: „Ein Buch der Abirrungen“ nennen Sie den „Wald der Metropolen“. Was werden Ihre nächsten „Abirrungen“ sein?
Ich habe keinen Fünfjahresplan, in dem das Zentralorgan meiner Intelligenz festlegt, was die nächsten Abirrungen sein werden. Ich habe, ohne es beabsichtigt zu haben, in den letzten Jahren in meinen Büchern eine ganze Reihe von literarischen Zwischenformen ausprobiert, um nicht zu sagen erfunden. Und das wird jedenfalls auch die künftigen Abirrungen bestimmen: dass ich gegen die strikte Trennung von literarischen Gattungen und Genres verstoße, um so für mich neue zu kreieren.
Ich tue das übrigens weniger aus dem literatenhaften Ehrgeiz, jemals etwas ganz Neues, die defintive Innovation gefunden zu haben, sondern weil es meinem Charakter entspricht. Ich muss mir literarisch immer etwas finden, in dem ich für die Vielfalt meiner Interessen und Temperamente eine Form finde, in der ich dem - und also mir selbst - gerecht werden kann.
Das Gespräch führte Simon Hadler, ORF.at