Der „Jedermann“ und die Kleiderfrage
Die Premiere fand in diesem Jahr wegen eines Wolkenbruchs im Großen Festspielhaus statt. Mittlerweile ist das „Jedermann“-Ensemble wieder auf den Salzburger Domplatz gezogen. Bevor die Glocken der Kathedrale den Beginn der Aufführung einläuten, wird in den Sitzreihen noch eifrig getratscht. Ob man die Aufführung im vergangenen Jahr gesehen habe, wird da gefragt. Und in der Folge dreht sich das Gespräch ausschließlich um die Buhlschaft, ihr Kostüm, ihren Auftritt, behauptete mangelnde sexuelle Spannung zwischen ihr und Jedermann.

Salzburger Festspiele/Matthias Horn
Die Buhlschaft singt im kleinen Schwarzen ein Ständchen für Jedermann
Die Gespräche im Publikum spiegeln die Diskussionen in den Medien wider: Man erträgt es auch 2018 nicht, wenn erotische Ausstrahlung und weibliche Körperlichkeit nicht in die Schublade mit der entsprechenden Aufschrift passen - trotz „#MeToo“ und aller anderen Diskussionen über sexuelle Selbstbestimmung, die im vergangenen Jahr geführt wurden.
Mehr „American Psycho“ als Lebemann
Regisseur Michael Sturminger hat auch auf diese Kritik reagiert und in seiner Inszenierung nachgeschärft. Hauptdarsteller Tobias Moretti erinnert mit seiner emotionalen Unzugänglichkeit und seinem glitzernden Maßanzug mehr an „American Psycho“ als an den gierigen Lebemann, den man in Salzburg beim „Jedermann“ so oft gesehen hat.
In der ersten Hälfte der Aufführung ist dieses Konzept zwar zäh, aber schlüssig: Edith Clever spielt eine elegant distanzierte Mutter, die sich sachliche Sorgen um ihren Sohn macht, keine übergriffige, frömmelnde Kepplerin.
Aus der Buhlschaft macht Sturminger eine Partnerin, die sich zwar um ihren Jedermann kümmert, den viel älteren Mann aber nicht neckt und offensiv anflirtet. Es gibt kein mädchenhaftes Gekicher und kein aufreizendes Getänzel - auf solche stereotypen Darstellungen weiblicher Verführungskunst verzichtet Stefanie Reinsperger gänzlich. Das war und ist einer der vehementesten Kritikpunkte an Sturmingers Inszenierung: Es gebe zu wenig Erotik auf der Bühne. So eiskalt, wie Moretti den Jedermann anlegt, passt eine Zweckgemeinschaft jedoch viel besser als eine überschäumende Amour fou.
Auch bei ihm kann man die Frage stellen: Warum muss der alte Bock zwingend auch geil sein? Eine Inszenierung, die, wie Sturminger es angekündigt hat, den „Jedermann“ in die Gegenwart bringen möchte, muss nicht alle Klischees bedienen, die sich in den fast einhundert Jahren Aufführungspraxis in Salzburg etabliert haben.
Bruch mit der Tradition
Hier bricht Sturminger eindeutig mit den Erwartungen des Publikums und verabschiedet sich von dem elenden Diskurs, der die Rolle der Buhlschaft spätestens seit ihrer Interpretation durch Veronika Ferres umweht und sich nur um Oberflächlichkeiten dreht: Der Körper und das Outfit der Buhlschaften werden seit damals ausgiebig diskutiert - Zustand des Dekolletees inklusive, das schauspielerische Können rückte in den Hintergrund.
Eine Erfahrung, die auch Reinsperger im vergangenen Sommer machen musste und die Folgen hatte. Statt eines opulenten Kleids in Altrosa trägt sie jetzt ein kleines Schwarzes. Damit scheinen Publikum und Kritik besser zurechtzukommen. Wie es Reinsperger damit geht? Sie wirkt auf der Bühne fast ein wenig verletzt und eingeschüchtert. Man kann es ihr aber auch nicht verdenken.
Der Tod steht ihm gut
All das hat natürlich auch Folgen für das Stück: Die erste Hälfte kommt mit wenig Humor und Emotion aus und hat so auch ihre Längen. Die Inszenierung kommt erst mit Jedermanns Anfechtung durch den Tod richtig in Fahrt. Peter Lohmeyers Sensenmann tänzelt ganzkörpertatowiert auf die Tischgesellschaft zu und leitet den Absturz ins Verderben ein. Der vordere Teil der Bühne kippt, und Mobiliar, Gläser und Porzellan landen im nicht vorhandenen Orchestergraben. Was auf der Bühne bleibt, das wirft der Tod hinterher.

Salzburger Festspiele/Matthias Horn
Die Bühne kippt, und Jedermanns Leben landet im Abgrund
Jedermann, der sich zunächst dem Wahnsinn verfallen glaubt, bekommt es mit der Angst zu tun, und Moretti zeigt auch: Der zunächst kühle und distanzierte reiche Mann braust auf und zerbricht langsam, aber sicher an seinen Aussichten. Lohmeyer läutet mit dem Crash der Tischgesellschaft auf fesselnde Weise seine Abschiedstour ein.
Weg vom katholischen Bekehrungsstück
Die „Werke“, die bei Sturminger ihr Attribut „gut“ verloren haben, liegen hüstelnd und vernachlässigt in einem Spitalsbett. Eine Rolle, die Mavie Hörbiger überzeugend zerbrechlich und zugleich trotzig spielt, ohne übertriebenes stimmliches Gekrächze oder künstliches Tiefsprechen.

Salzburger Festspiele/Matthias Horn
Dieser Jedermann hadert mit der Vergebung, weniger mit dem Glauben
Der Teufel (Hanno Kofler) ist zwar nicht lustig, dafür aber akrobatisch, der Mammon (Christoph Franken) ein Riesenbaby, das sich als brutaler Unterdrücker entpuppt. Und Johannes Silberschneider gibt auch in diesem Jahr als Glaube einen überzeugend spröden Gottesgelehrten. Ein katholisches Bekehrungsstück hat Sturminger hier nicht inszeniert. Der Glaube an Vergebung erlöst den Jedermann schließlich, nicht der an Gott. Auch das Publikum scheint mittlerweile gnädig gestimmt. Am Ende gibt es für alle ausgiebigen Applaus.
Marlene Nowotny, ORF.at