Die Oper auf der Couch
Wer sich der Oper ausliefert, so der Opernfan und Psychosomatikexperte Titscher, darf mit unerwarteten Erfahrungen und Gefühlsausbrüchen rechnen. Warum, das erklärt er in einem Gespräch. Als besondere Kunstform, so Titscher vor dem Auftakt der ORF.at-Serie „Die Oper auf der Couch“, bearbeite die Oper nicht nur unsere Empfindungen, sondern auch unser Unbewusstes und nicht zuletzt sogar unser vegetatives Nervensystem.
Ein Verdi-Chor kann den Blutdruck senken, eine andere Szene das Adrenalin puschen. Und insgesamt lasse das „Containererlebnis Oper“ viele Menschen ihre körperlichen Problemlagen vergessen. Ein Opernbesuch könne Therapie sein, aber auch Sucht. Und nicht zuletzt, so wird Titscher vor jeder Opernpremiere in kurzen Videobotschaften auf ORF.at erzählen, könne man über die klassischen Opern auch sehr viel über sich selbst erfahren.
ORF.at: Was erfahren wir, wenn wir die Oper auf die Couch des Therapeuten legen?
Georg Titscher: Wenn wir die Oper tiefenpsychologisch betrachten, erfahren wir etwas über die Figuren, über die Handlungsmotivationen, über ihre Beziehungen, was wir sonst nicht sehen würden – und wir erfahren letztlich etwas über uns selbst.

Thomas Hangweyrer/ORF.at
Experte für schwere Fälle
Der Kardiologe und Psychotherapeut Georg Titscher deutet seit Jahren die Oper aus tiefenpsychologischer Sicht. Auch heuer bei den Salzburger Festspielen. Ab 27. Juli erklärt er für ORF.at vor jeder großen Premiere in Salzburg, wie man „Die Zauberflöte“, „Salome“ und Co. noch verstehen kann. Und welche Botschaften in den Opern für uns stecken.
ORF.at: Was macht unser Verhältnis zur Oper so speziell?
Titscher: Von allen Kunstformen setzt die Oper wohl die meisten Gefühle frei. Wir werden mit unseren eigenen Gefühlen konfrontiert und können uns fragen, warum uns eine bestimmte Oper besonders berührt. Das hat dann viel mit uns zu tun und nicht nur mit der schönen Musik. Und wenn wir umgekehrt eine bestimmte Oper ablehnen, so hat das auch nicht unbedingt nur mit dem Stück zu tun, sondern berührt möglicherweise einen Teil von uns, den wir selbst ablehnen. Oder berührt unsere Schattenseiten oder etwas, das wir nicht so sehr mögen.
ORF.at: Können beim Genuss der Oper psychosomatische Schübe vorkommen, ähnlich dem „Stendhal-Syndrom“, wo die Begegnung mit lang ersehnten Kunstwerken Anfälle hervorruft?
Titscher: Das „Stendhal-Syndrom“ war natürlich ein Phänomen des 19. Jahrhunderts und hat viel mit Hysterie, die damals weit verbreitet war, zu tun. Heute wirkt es sich anders aus, nämlich psychosomatisch, und es gibt immer wieder Patienten, die berichten, dass sie bei einem Opernbesuch Herzklopfen bekommen oder Magenschmerzen. Aufschlussreich ist es, sich anzusehen, in welcher Situation diese Beschwerden auftauchen. Und fast immer gibt es tiefere Zusammenhänge zwischen Figurenkonflikten und dem Patienten oder der Patientin.
ORF.at: Ist die Oper dann ein Medium für Spiegelungen oder Übertragungsprozesse?
Titscher: Ja, durchaus – einerseits kann das Gefühle betreffen, die wir haben oder aber auch: Gefühle, die wir nicht leben können. Und das ist in der Oper besonders häufig, dass sie Gefühle freisetzt, die sonst nicht gelebt werden können.
Ein anderer Zugang zur Oper
Wer in die Oper geht, trifft dort nicht nur alte Bekannte aus der Theatergeschichte. Nicht selten trifft man dort auf sich selbst, so der Opernexperte und Arzt Georg Titscher.
ORF.at: Wie gesund oder krank sind eigentlich die großen Figuren der Operngeschichte?
Titscher: Ich würde da nicht grundsätzlich von gesund oder krank ausgehen, wobei es ja Opern gibt wie die „Salome“, wo nur pathologische Figuren auf der Bühne stehen. Tatsächlich betreten viele Opernfiguren mit ihrem Konflikt die Opernbühne. Und natürlich interessieren uns Figuren mit Konflikten mehr als irgendwelche problemlosen Zeitgenossen aus dem Alltag. Wir wollen auf der Bühne jene Konflikte miterleben, die wir ja selber haben. Und vielleicht wollen wir auch Lösungen angeboten bekommen. Und wenn schon keine Lösungen geboten werden, dann können wir uns an den dargestellten Problemen zumindest abreagieren.

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„Jede Epoche hat auch ihre Modekrankheit auf der Bühne“, so Georg Titscher im Interview
ORF.at: Wie sehr sind Opernfiguren Individuen oder Archetypen?
Titscher: Ich glaube, das kann man nicht verallgemeinern. Es gibt die Archetypen auf der Opernbühne, denken Sie nur an Richard Wagner, etwa an Erda, als Prinzip der Mutter mit dem Wissen um die Erde, um die Zukunft. Don Giovanni von Mozart ist ein Mythos, zugleich treffen wir in „Cosi fan tutte“ mit den vier jungen Menschen Personen wie du und ich. Bei Verdi gibt es Typen wie den Falstaff, wobei Verdi gerade auch in seinen späteren Opern nicht nur den Typ zeigt, sondern ebenso den Menschen aus Fleisch und Blut. Und es gibt zugleich bei Verdi die Typen, die das Patriarchat repräsentieren – insofern kann man das nicht verallgemeinern. Es gibt einfach alles auf der Opernbühne.
ORF.at: Sind dann die Probleme unterschiedliche – je nachdem ob Typus oder Charakter aus Fleisch und Blut?
Titscher: Die Archetypen sind jenseits von Krankheit und psychischen und körperlichen Diagnosen. Sie stehen als Teil des psychologischen Unbewussten da und sind nicht in diesen Kategorien messbar. Die echten Archetypen sind zeitlos und ewig.
Krankheitsfälle bei Mozart
„Don Giovanni ist ein Typ, der in den Herzinfarkt hineinlaufen muss, gleichzeitig verleugnet er bis zum letzten Moment seine Krankheit.“
ORF.at: Wie vielschichtig kann man Figuren auf der Opernbühne angelegen?
Titscher: Eine beliebte Technik, unbewusste Persönlichkeitsanteile einer Figur, die Schattenseiten auf der Bühne darzustellen, ist, gegensätzliche Charakterseiten auf zwei Figuren aufzuteilen. Da gibt es viele Beispiele im Sprechtheater und in der Opernliteratur: Othello und Jago, Elisabeth und Venus im „Tannhäuser“, Max und Kaspar im „Freischütz“ oder eben auch Tamino und Papageno in der „Zauberflöte“.
ORF.at: Gibt es typische Symptome, die immer wieder auf der Opernbühne auftreten?
Titscher: Jede Epoche hat ihre Hauptkrankheit – denken Sie eben an die Hysterie im 19. Jahrhundert. Und natürlich muss man auch aufpassen, in der jeweiligen Konkretisierung nicht zu weit zu gehen. Bei „Don Giovanni“ gibt es etwa im Text, aber auch in der Musik Hinweise, dass Don Giovanni einen Typ repräsentiert, der nach heutigen Kategorien ein typischer Kandidat für den Herzinfarkt ist. Er singt ja wenige Momente vor seinem Tod „Mein Herz schlägt fest in der Brust“, weil er bis zum letzten Moment seine Krankheit verleugnet. Regisseure nutzen diese Hinweise, und nicht selten greift sich der Don Giovanni, bevor er stirbt, öfters an die Brust.

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„Viele Komponisten und Librettisten haben bestimmte Krankheitsformen bereits vor der Medizin beschrieben“
ORF.at: Hat die Oper auf der Bühne Krankheiten vorweggenommen, die erst später, etwa in der Psychiatrie, klassifiziert und beschrieben wurden?
Titscher: Ja, man kann durchaus sagen, dass auch die Komponisten und Librettisten der Oper einiges vorweggenommen haben, wie ja überhaupt oft Künstler einen sehr aufmerksameren Zugang zum Bereich der Psyche haben als viele Professionisten. Ich denke hier an die psychodynamisch korrekte Beschreibung der Spielsucht in „Pique Dame“, die damals noch gar nicht als Suchterkrankung erkannt wurde; oder an die Darstellung einer Prüfungsneurose im „Freischütz“ am Beispiel des Probeschusses von Max.
Die Musik und das Unbewusste
Die Musik hat für den Psychotherapeuten die Funktion, das Unbewusste zu bearbeiten. Auf der einen Seite gebe es den Gesang, so Titscher, als Ebene des Bewusstseins. Die Musik aber kommentiere, wie das Gesagte einschätzen sei.
ORF.at: Wie sehr unterstützt die Musik den Konfliktverlauf? Wie sehr deckt die Musik in der Oper auf?
Titscher: Die Oper hat dem Sprechtheater etwas voraus. Sie hat die Ebene des Gesangs, analog zum Sprechen auf dem Theater. Aber sie hat eben auch die Orchesterstimme. Sie kann also zwei Ebenen gleichzeitig behandeln. Die Singstimme entspricht dem, was der Figur bewusst ist. Und das Orchester, wenn es nicht nur Begleitung ist, gibt einen Kommentar ab. Dieser Kommentar ist immer wieder das Unbewusste. Bei der „Zauberflöte“ singt Tamino in der Sprecherszene, wo er vom mütterlichen Bereich der Königin der Nacht in den väterlichen Bereich des Sarastro übertritt „Oh ew’ge Nacht, wann wirst du schwinden?“ – aber er singt das in der Melodie der ersten Arie der Königin der Nacht („Oh zittre nicht mein lieber Sohn“). Und das zeigt, dass er noch ganz im Bereich des Mütterlichen ist. Mozart hat das tiefenpsychologisch so angelegt, dass wir das auf einer unbewussten Ebene mitbekommen. Fiordiligi in der „Cosi“ wiederum spricht sich in der Felsenarie Mut zu – aber vom Orchester hören wir in der zweiten Strophe, wie die Steine vom Fels fallen.
ORF.at: Warum geht uns die Oper so ans Herz und unter die Haut?
Titscher: Einerseits ist die Funktion der Musik das Wecken von Emotionen. Emotionen sind nur eine andere Ebene des vegetativen Nervensystems, das ja unter anderem unsere ganzen Organfunktionen und auch unseren Blutdruck steuert. Insofern ist es verständlich, dass Musik etwa unseren Herzschlag beeinflussen kann. Hinzu kommt noch, dass in unserem Kulturkreis das Herz der Sitz der Liebe ist, wenn nicht sogar der Sitz der Gefühle. Es gibt aber auch ganz konkrete Beweise und Untersuchungen zu den physiologischen Zusammenhängen zwischen Musik und Herztätigkeit, etwa zum Gefangenenchor aus „Nabucco“: Die Elfsekundenperiodik dieser Musik entspricht der kurzen Periodik der Blutdruckregulation – und die kurze Periodik entspricht genau dieser Sequenz im Gefangenenchor. Der Gefangenenchor wirkt blutdruckstabilisierend bis blutdrucksenkend.
Oper und Psychosomatik
Musik, so der Experte, richte sich nicht zuletzt auch an das vegetative Nervensystem. Und dieses steuere nicht zuletzt auch unsere Organe. Oder aber den Blutdruck.
ORF.at: Gibt es ein Moment der Euphorie in der Oper, das gerade Menschen, die sehr mit sich selbst und ihrem Körper beschäftigt sind, ihre menschliche Hülle vergessen lässt?
Titscher: Ein Element ist sicher das Gemeinschaftserlebnis, wenn etwa 2.000 Menschen das gleiche Gefühl haben. Dann spielt das Moment der Verdunkelung eine Rolle. Das Ganze ist ja fast der Situation im Mutterleib vergleichbar. Man spricht ja deshalb auch vom Containererleben - also von einem Gemeinschaftserlebnis im dunklen Raum, wo alle die gleichen Gefühle haben, das einen tatsächlich davonträgt.
ORF.at: Gibt es eine Form der Katharsis, der Reinigung, ja, des Spannungsabbaus, der von der Oper ausgeht?
Titscher: Die Katharsis ist ja ein gemeinsames Element aller Kunstformen, und die Oper scheint da wieder besonders prädestiniert, eine Reinigung, einen Spannungsabbau hervorzurufen. Ich sehe aber auch ein gewisses Risiko darin: Gefühle, die uns im Alltagsleben belasten, können eventuell in der Oper abreagiert werden. Das ist auch eine Funktion von Kunst, kann aber in Einzelfällen sogar Suchtcharakter annehmen. Der psychische Druck erscheint verringert, weil ein scheinbares seelisches Gleichgewicht hergestellt wurde. Dadurch werden notwendige Änderungen im tatsächlichen Leben aber unterlaufen.

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„Viele Opernfiguren bringen ihren Konflikt schon mit auf die Bühne“
ORF.at: Die Salzburger Festspiele haben sich ja heuer konzeptionell dem Rausch, dem Grenzübertritt, der Ekstase verschrieben. In vielen Werken, der „Krönung der Poppea“, der „Pique Dame“ und gerade der „Salome“ geht es ja um Grenzüberschreitungen, ja, den Anblick des Bösen. Wie viel ist uns auf der Opernbühne zumutbar? Gibt es eine Grenze des Sagbaren oder des Darstellbaren?
Titscher: Es gibt Opern, die uns emotional so mitnehmen, dass wir es fast nicht aushalten. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, das auszuhalten. Und bei der „Salome“ ist es ja die Kunst von Richard Strauss, diese pathologischen Persönlichkeiten so vorzustellen, dass wir mit ihnen auch mitleiden können, selbst mit diesem schrecklichen Mädchen Salome.
ORF.at: Gibt es auf der Opernbühne dann auch so etwas wie eine erlösende Gewalt?
Titscher: Bei Brutalität fällt mir Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ ein, die einen nicht gleichgültig lassen kann. Bei „Macbeth“ ist es eine Erlösung, dass das Paar stirbt. Auch tiefenpsychologisch und emotional ist es nicht anders möglich und für das Publikum eine Genugtuung, dass diese zwei schrecklichen Menschen so nicht mehr weiterleben können.
Das Interview führte Gerald Heidegger, ORF.at