„Lulu“: Unsafe Sex mit Nervensägen
Selten jedenfalls hat man auf der Pernerinsel derart entnervte, enttäuschte Gesichter gesehen wie an diesem Premierenabend am Donnerstag in Hallein. Demonstrativ bis mitleidvoll spendeten die Schauspieler der Inszenierung von der Bühne solidarischen Applaus.
Dabei hatte es zu Beginn doch so eindrucksvoll ausgesehen. Über der Bühne schwebten dunkle Kugeln und die Regisseurin nahm den Titel des ersten Teils, „Erdgeist“, so wörtlich, dass tatsächlich die männlichen Helden über Schlitze im Boden hinein- und hinauskatapuliert wurden. Wedekinds in zwei Teilen in die Welt gekommenes Stück ist ja auch eine Szenenfolge zum Leben der freizügigen Lulu, die geführt, gelenkt und verheiratet wird - und stets aus den ihr zugedachten Mustern ausbricht.
Ihre Männer stößt sie vor den Kopf. Und entweder rafft sie der Anblick von Lulus Untreue sofort mit dem Herzschlag hinweg - oder ihre Geliebten räumen sich gegenseitig aus dem Weg. Jede Episode der „Lulu“ ist in sich abgeschlossen - und stimmigerweise kann man daraus etwas bauen und auch: kürzen. Denn die originale, zweiteilige „Lulu“ ist gar ein bisschen lang, wenngleich in den Beobachtungen originell.

Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus
„Lulu“ 2017 - ein zweistündiger Reigen unter dem Bällebad, gestrandet irgendwo zwischen Trash und documenta-Installation
Ein Best-of des „Lulu“-Texts
Geschickt nimmt man sich für den Abend den Text her, präpariert daraus auch so etwas wie ein Best-of. Und setzt auf die bekannten Schlüsselszenen. Wedekind stellt ja Sex nicht dar - er thematisiert die Auswirkungen der Freizügigkeit, nicht zuletzt am Kontrollzwang der in der Welt Lulus operierenden Männer.
„Lulu“ bei den Salzburger Festspielen
Die Salzburger Festspiele gehen mit der „Lulu“-Produktion ins Finale. Regie führt die griechische Schauspielerin und Filmemacherin Athina Rachel Tsangari.
Dass allerdings drei Frauen (Anna Drexler, Isolda Dychauk und Ariane Labed) Lulu sind, ist nur mit dem simpelsten aller Einfälle zu begründen: zeigen zu wollen, wie vielgestaltig die zentrale Frauengestalt ist (so liest man es auch im Programm). Wenn denn dieser Ansatz in der Geschichte des Dramas stimmte, man müsste wohl 47 Hamlets wie Dutzende Fausts auf die Bühne stellen. Christoph Marthaler spielte einst in der „Wurzel aus Faust 1 und 2“ mit der Idee, als er Faust für eine Szene vier aus der Wand geklappte Gretels schenkte. Und selbst Marthaler, der sich einen ganzen Abend an einem Drehtüren-Slaptstick begeistern kann, wusste: Parallel sprechende Darsteller hält man bestenfalls sehr, sehr kurz aus.
„Lulu“-Eyeballs im Bällebad
Nun sprechen die drei Lulus ohnedies nur in der ersten Szene parallel. Die ist lange genug - und der Witz durchsichtig. In den folgenden Szenen werden sich die drei Figuren durchaus aufteilen, was spannend wäre, würde das Stück nicht von Szene zu Szene mehr im Diffusen ertränkt. Hintergrundmusik und die sich hebenden und senkenden Bälle, auf die dann noch mehr Lulus oder Augenpaare aufprojiziert werden, gaukeln eine Struktur vor, die der Abend nie hat.

Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus
„Ich ist ein anderer“, meinte einst Rimbaud: Ich, das könnten aber auch drei Kücken sein
Als Lulu nach Frankreich geht und sich prostituiert, hat man jeden Faden verloren. Zu sehr ist alles ein bisschen Probeabend an der Volksbühne, so schön die Kostüme und so kunstvoll die Bühne sein mag. Fritzi Haberland als lesbische Gräfin von Geschwitz steht wie ein Irrlicht, aber nicht wie ein Reibebaum gegen die Geschichte der Lulu auf der Bühne.
Hinweis
„Lulu“ ist auf der Perner-Insel in Hallein noch am 19., 20., 22., 24., 25., 27., 28. August zu sehen.
Und auch Rainer Bock, der als Dr. Goll zu Beginn eher aussieht, als hätte sich Urban Priol ins Setting verirrt, kann keine Struktur mehr garantieren. Dass sich der von Wedekind vorgesehene Jack the Ripper am Ende als eine der drei Lulu-Figuren entpuppt, macht das Elend des Abends deutlich. Lulu wird nicht ermordet, sie verschlingt sich quasi selbst. „Lulu lebst du noch?“, fragt die Gräfin im letzten Satz der Inszenierung. Nein, Lulu lebt nicht mehr. Sie wurde gleich zu Beginn dramaturgisch zu Grabe getragen.
Der zweistündige Abend unter dem Bällebad, er ist nicht die von der Regisseurin erträumte Vorform der Screwball-Comedy mit neuen Mitteln. Wer schon bisher gefunden hat, dass die Postmoderne eine im Wesentlichen doofe Veranstaltung ist, konnte sich an diesem Abend in zwei langweiligen Stunden bestätigt fühlen.
Gerald Heidegger, ORF.at