„Faust“: Viel Lärm um ... nichts
Die 1859 in Paris uraufgeführt Geschichte im Libretto von Jules Barbier und Michel Carre lehnt sich grob an Johann Wolfgang von Goethes Werk an, verlegt aber den Fokus auf die „Gretchentragödie“ - im deutschsprachigen Raum wurde das Stück deshalb auch lange unter dem Titel „Margarethe“ gezeigt. In der Festspiel-Inszenierung ist die Interpretation aber deutlich metaphysischer.

Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus
Mephistopheles lässt Faust von Marguerite träumen
Für Von der Thannen steht nicht das Drama rund um die verführte Kindsmörderin im Zentrum, sondern im wahrsten Sinne des Wortes nichts - rien. Das zentrale Wort des Theatermachers, der als Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner in Personalunion zugange war, hängt daher in geschwungener Leuchtschrift gleich im ersten Bild von der Decke. Es sei der „gedankliche Taktgeber“ seiner Arbeit gewesen, so Von der Thannen, der den Nihilismus als Motto des Abends verstanden wissen will.
Viel Etwas, in Folien übereinander
Zumindest optisch hält er das nihilistische Versprechen nicht ein, im Gegenteil. Wie lässt sich nichts aber auch einen vierstündigen Abend lang verdeutlichen? Von der Thannens Antwort darauf: mit einem „beträchtlichen Etwas“ und dem Prinzip der Überhöhung. Um die Allgemeingültigkeit seiner Interpretation zu transportieren, habe er sich statt für eine konkrete zeitliche und räumliche Verordnung für ein „Folienprinzip“ entschieden, bei dem er Gegenwart, die Romantik als Entstehungszeit der Oper und das Mittelalter als Ursprung der Legende übereinandergelegt habe, so Von der Thannen.

Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus
Marguerite wohnt in einem Showzylinder und freut sich über einen Glitzerschal
Der Gelehrte als 70er-Jahre-Showmaster
Das Ergebnis ist, in der später noch reichlich ausgeschmückten Basisversion, ein unterkühlter, weißer Hochglanzballsaal, der dann und wann pastellfarben und von Neonleuchtkörpern illuminiert wird. Wie die 1970er-Jahre-Folie in sein Konzept gerutscht ist, erklärt Von der Thannen nicht. Wenn der von Mephisto verjüngte Faust seinen Showmaster-Auftritt aus dem zentralen Bühnenauge in der Bühnenmitte (Ähnlichkeiten mit dem Ex-ORF-Logo nicht zufällig) hinlegt, stellt sich schon erstmals die Frage, ob das nun absichtlich oder unabsichtlich komisch ist.
Zeit, darüber nachzudenken, bleibt nicht viel, nachdem von allen Seiten der Bühne kontinuierlich für Nachschub an „Etwas“ gesorgt wird - mal kryptischer in Form von riesigen schwarzen Kugeln, die über die Bühne gerollt werden, mal plakativer, etwa durch eine überdimensionale Marguerite und pfahlartig von oben kommende Orgelpfeifen. Beim Highlight, einem über zehn Meter hohen, zum Soldatenchor tanzenden Marionettenskelett, scheint dem Gros des Premierenpublikums dann die Frage nach der freiwilligen oder unfreiwilligen Komik der aus dem Schnürboden heruntergelassenen Symbolik nicht mehr so wichtig - ein Lacher im vierten Akt der Tragödie.
100 Clowns in Universalstramplern
Genau wie das Bühnen- ist auch das Kostümbild der Inszenierung ein Feuerwerk an Ideen. Die interessanteste davon ist jene, den Chor - der als Symbol für die scheinheilige Doppelmoral der Gesellschaft fungiert - in hautfarbene Hampelmannstrampler zu stecken. Rund 100 Narren - neben den Mitgliedern des Wiener Philharmonia Chors stecken auch rund ein Dutzend Tänzer in den Anzügen - bevölkern die Bühne und übernehmen als Mephistopheles’ Claqueure, choreografiert von Giorgio Madia, recht aktiv die Rolle des passiven Kommentatorenkollektivs im Sinne der griechischen Tragödie.

Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus
An den langen Tischen der Ostermesse
In der Personenführung beweist Von der Thannen einen guten Sinn für große Bilder und für akkurat gearbeitete, eindrucksvolle Tableaus. Die intimeren Szenen bleiben dabei eher auf der Strecke, und auch die Chemie zwischen den Protagonisten will sich so oberflächlich skizziert nicht recht manifestieren.
Bezauberndes Trio an der Spitze
Ganz anders musikalisch: Piotr Beczala als Faust, Ildar Abdrazakov als Mephistopheles und Maria Agresta überzeugen stimmlich sowohl in ihren eigenen Arien als auch in den Ensemblestücken. Der polnische Publikumsliebling Beczala bezaubert mit einem prächtigen Timbre und klarer Höhe. Abdrazakov scheint in seiner Rolle teuflischen Spaß zu haben und zeigt nebenher auch musikalisch große Überzeugungskraft.
Vor allem aber Agresta, die im Vorjahr ihr Debüt in Salzburg gab, steigert sich im Laufe des Abends merklich und läuft beim tragischen Ende, als zerbrechende, verratene Marguerite stimmlich zur Höchstform auf. Die Wiener Philharmoniker zeigten diese heuer schon mehrfach. Unter der Leitung des jungen Argentiniers Alejo Perez - wie Agresta ist auch er zum zweiten Mal in Salzburg - bleiben sie auf solide hohem Niveau, ohne die lyrische Komposition speziell zu interpretieren.
„Faust“ ist bei den Salzburger Festspielen noch am 14., 17., 20., 23., 26. und 29. August im Großen Festspielhaus zu sehen.
Beim Premierenpublikum stieß das auf viel Begeisterung - neben den bereits Genannten ernteten auch Alexey Markov als Valentin, Tara Erraught in der Hosenrolle als Siebel, Paolo Rumetz als Wagner und Marie-Ange Todorovitch als Marthe großen Applaus.
Stehend gegen die Buhrufer
Vorbei mit der Einigkeit war es erst, als das Team um Von der Thannen die Bühne betrat und Fans der Inszenierung weiter mit großem Jubel und Standing Ovations gegen die Front der Buhrufer angehen mussten - eine Premiere in diesem Jahr. Bis jetzt waren die Publikumsreaktionen in Salzburg nämlich recht einmütig positiv. Mit dem „Faust“-Premierenabend und damit der letzten Opernneuinszenierung der Saison fand quasi in letzter Minute doch noch ein Opernreaktionenwettstreit seinen Platz.
Sophia Felbermair, ORF.at