Die „Winterreise“ führt auf die Fluchtroute
Hinter dem Orchester erhebt sich ein Hügel, darauf stehen eine abgerissene Couch, eine schmutzige Toilette und ein Tenor, der Jacke und Hose aus der Altkleidersammlung trägt. Wer bei dieser „Winterreise“ nach einem schwarzgelackten Flügel und einem statischen Sänger Ausschau hält, sucht vergebens. Janos Szemenyei singt die Geschichte des jungen Mannes, der sich auf eine einsame Reise begibt, nicht nur, er spielt seine Rolle mit vollem Körpereinsatz.
Bilder einer einsamen Flucht
„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus.“ Die ersten Verse der „Winterreise“ wirken durch die Bilder, die der Regisseur Mundruczos mit seiner Kompanie Proton Theatre auf eine riesige Leinwand auf der Bühnenrückwand projiziert, umso stärker.

Bálint Hrotkó, Proton Theatre
Es sind Bilder aus dem ungarischen Flüchtlingslager Bicske. Während sich Szemenyei auf dem Sofa wälzt und seinen Gesang mit erratischen Schreien unterbricht, sieht man Aufnahmen von trostlosen Bungalows, leeren Kühlschränken und karg möblierten Gemeinschaftsräumen.
Eine etwas andere „Winterreise“
Das Thema „Winterreise“ prägte die Festwochen in vieler Wei Mundruczo interpretiert sie auf seine Art.
Mundruczos drehte bereits 2013 im Lager. Laut eigener Aussage wollte er Bilder einfangen, die neutraler sind als jene, mit denen klassische Medien arbeiten, in denen ein ideologischer roter Faden erkennbar sei. Er zeigt junge Männer, junge Familien, die sich auf eine Reise mit unbekanntem Ausgang gemacht haben, die in Europa gestrandet sind und darauf warten, endlich anzukommen.
Dramatische Klänge jenseits des Originals
Musikalisch hat sich Hans Zender mit seiner „komponierten Interpretation“ der „Winterreise“ weit vom Original entfernt. Die Lieder sind zwar stets erkennbar, Zenders Version erfährt durch die Orchestrierung aber einen Romantisierungsschub. Das Danubia Orchestra Obuda interpretiert den Liederzyklus, den Schubert 1827, ein Jahr vor seinem Tod, schuf, mit viel Dramatik.
Hinweis
Weitere Vorstellungen sind am 9. Juni und 10. Juni um 20.00 Uhr in den Gösserhallen zu sehen.
Szemenyeis muss verstärkt singen, um die Gösserhalle zu füllen. Doch sein Gesang ist teilweise noch mit Hall unterlegt. Eingefleischten Schubert-Liebhabern dürfte das wohl zu weit gehen. Diejenigen, die das nicht stört, sehen eine intensive schauspielerische Darstellung. Der Tenor scheint bewusst mit starkem ungarischen Akzent zu sprechen, um die von ihm verkörperte Sehnsucht nach Akzeptanz zu verstärken.
Bedrückende Aktualität
Der Regisseur nützt diese teilweise überbordende Dramatik, um die bedrückende Aktualität von Heimatlosigkeit und Flucht zu zeigen. Hier wegzuschauen, wird dem Publikum unmöglich gemacht. Schauspiel, Konzert und Videoinstallation setzen ihre emotionalen Höhepunkte dabei meist zeitgleich. Eine Synchronität, die sich im Lauf des Abends ein wenig abnutzt.
Das zeigt sich etwa beim 13. Lied des Zyklus, „Die Post“. Szemenyeis singt, untermalt von Streichern: „Die Post bringt keinen Brief für dich.“ Dazu schreibt er verzweifelt auf ein Blatt Papier. Im Hintergrund sieht man Geflüchtete, die in verschiedenen Sprachen Nachrichten an ihre daheimgebliebenen Verwandten verfassen. An dieser Stelle verpasst die Tontechnik dem Tenor einen Sound, der beinahe an ein Musical erinnert, so pathetisch durchdringt das Lied die Halle.
Bruch mit dem Sehnsuchtsort
Mundrczos Inszenierung endet dort, wo die Hoffnungs- und Heimatlosigkeit für viele Geflüchtete begonnen hat: Auf der ungarischen Autobahn, wo sie von „Ordnungskräften“ Richtung Flüchtlingslager geleitet werden. Man sieht hoffnungsvolle Gesichter von Frauen, Männern und Kindern, die glücklich sind, endlich anzukommen. Das lange Warten im Lager steht ihnen noch bevor.
Der Regisseur erzählt, dass ihn die „Winterreise“ an seine Kindheit erinnere, dass Schuberts Musik für seine Familie zur Zeit der Sowjetunion ein biedermeierlicher Sehnsuchtsort gewesen sei. Heute liest er das Stück definitiv anders: eine einsame Reise ungewissen Ausgangs. Das Publikum war offen für diesen neuen Zugang und beendete den Abend mit langem Applaus.
Marlene Nowotny, ORF.at