Traiskirchen wird zum Musical
Der Abend im Volkstheater begann leise. Stumm tröpfelten die Darsteller auf die Bühne. Man weiß: Sie alle haben eine Geschichte zu erzählen, sie alle flüchteten aus ihren Ländern und sind nun in Traiskirchen gelandet. Wie es ihnen dann im Lager ergangen ist, darauf wird auf der Bühne unter Berufung auf den Bericht nach einem Lokalaugenschein von Amnesty International Bezug genommen.
Amnesty-Kritik als Grundlage
Zur Erinnerung: In dem Bericht wurde vernichtende Kritik an der Administration der Flüchtlingskrise durch Bund und Länder und an der Arbeit der Lagerleitung geübt. Die hygienische Situation sei mangelhaft, es gebe nicht einmal Vorhänge in den Damenduschen, die soziale Versorgung lasse zu wünschen übrig, Flüchtlinge müssten stundenlang in der Hitze Schlange stehen, viele hätten kein Dach über dem Kopf, die medizinische und psychologische Versorgung sei mangelhaft, die Mitarbeiter der mit der Flüchtlingsbetreuung beauftragten Firma ORS seien heillos überfordert - und das alles sei vermeidbar gewesen.
Aus dem Innenministerium unter der damaligen Ministerin Johanna Mikl-Leitner hieß es lapidar, man sei „nicht überrascht“. Das System sei angesichts der Masse an Flüchtlingen überfordert - und überhaupt seien die Bundesländer an dem Schlamassel schuld, weil sie nicht genügend Flüchtlinge aus der Erstaufnahmestelle übernehmen würden.
Integration und „Quotensandler“
Die Überforderung der ORS-Angestellten wird gekonnt auf die Bühne gebracht. So versucht „good cop“ ORS-Josef zu helfen, wo er kann (bewegend und stimmsicher: Uwe Dreysel), während „bad cop“ ORS-Moses mehr mit seinem „Schatzi“ telefoniert, als zu arbeiten (hinreißend komisch: Moussa Thiaw).

Volkstheater
Überfordert mit der Gesamtsituation: ORS-Moses (Moussa Thiaw, links) mit ORS-David (Farzad Ibrahimi)
„Der Nächste bitte – was wollen Sie, was brauchen Sie?“, fragen die ORS-Mitarbeiter die brav aufgereihten Flüchtlinge. Der eine braucht eine Dusche, die andere will wieder jung sein, da wird nach Nagelscheren und Wartenummern gefragt, alles, nur nicht in der Hitze Schlange stehen. “Ich will Mitleid“, „Ich will mich integrieren – einmal McMenü mit Apfeltasche bitte“, ruft einer der Darsteller.
„I bin da Quotensandler“, tönt es vom Rande der Bühne. Dort sitzt als Obdachloser kommentierend der Sandlergottregisseur (großartig: Bernhard Dechant) und bemerkt entrüstet: „Wos is mit unsere Hinnigen?“ Dazu tönt Schrammelmusik.
Aufarbeitung mit Witz
Man möchte Tina Leisch und Bernhard Dechant Blumen streuen - mit feiner Klinge schaffen es die Regisseure, an der sensiblen Grenze zu schaben – zwischen aufs Korn und Ernst nehmen. Ein junger Afghane (Bagher Ahmadi) möchte unbedingt heiraten, „nur für die Papiere“, stellt er klar. Gekonnt wird zwischen pointiertem Schmäh und dokumentarischer Aufarbeitung changiert.
Da werden Flüchtlingen Klischees umgehängt, die sie sogleich wieder abschütteln, fundamentalistischen Moslems (stark Jihad Al-Khatib und Zaher Mahmoud) genauso wie „Wutbürgern“ und besorgten Mitläufern eine Stimme gegeben und „Gutmenschen“ auf die Schaufel genommen. Selbst Johanna Mikl-Leitner hat ihren Auftritt (zum Schreien komisch: Khalid Mobaid) – ein ganzer Song wurde ihr gewidmet.

Volkstheater
„Gewappnet“ das Ensemble
Altkleider entsorgen als „Hilfe“
Mitleid für die Haie, Hauptsache Bio, endlich mal das gebrauchte Gewand nicht in die Humana Box stecken – Liebe zeigen. Dazu beinahe kitschige Musik. „Refugees Welcome“, rufen die Freiwilligen beglückt (charismatisch: Sophie Resch), um im nächsten Moment dem dunkelhäutigen Amnesty-International-Mitarbeiter den Refugee-Stempel aufzudrücken. Wo fängt Rassismus an?
Dabei wird das Publikum nicht geschont. Mehrmals wandelt sich die Rolle, wird das Publikum zum „Zaungast“, der vor lauter Passivität „traumatisiert“ erscheint. „Bleiben S’ nur sitzen“, wird da gerufen.
Gekonnt in Szene gesetzt
Es braucht nicht viel für einen gelungen Theaterabend – das Bühnenbild (Gudrun Lenk-Wane) ist karg und dabei wandelbar. Es liegen Holzstücke herum, im Hintergrund ein Gerüst, das an einen Funkmast oder einen Wachturm erinnert. Die Holzstücke wandeln sich im Laufe des Stückes zu Zaunelementen, zu Fahrzeugteilen, zu Waffen und Hindernissen. Plastiksackerl mutieren zu wärmenden Decken und Regenschutz, für all jene, die draußen schlafen müssen.
Jazz, Funk, Hip Hop und ein bisschen Kitsch
Es groovt nicht nur im Orchestergraben unter der Leitung von Imre Lichtenberger Bozoki, der für Dirigat und Komposition der meisten Lieder verantwortlich zeichnet. Dabei wartet das kleine, umso stimmungsgeladenere Orchester mit Elementen aus Hip Hop, Rap, Blues und Jazz genauso auf wie mit syrischen Liedern (berührend: Sängerin Sakina Teyna), Schrammel- und Marschmusik. Getextet haben mitunter Bauchklang (Philipp Sageder und seine Kollegen erarbeiteten den „Parolenbattle“) und die Hip-Hop-Band Texta aus Linz, die den „Traiskirchen-Rap“ schufen.
Wo ist die Schildkröte?
Nicht alle Töne sitzen, aber das ist nicht wesentlich. Es ist ein Theaterabend, wie er sein soll und wie man ihn sich öfter im Wiener Volkstheater wünscht: unterhaltsam, zum Nachdenken anregend, animierend.
Einmal noch wird das Publikum aufgefordert, teilzunehmen. Das Saallicht geht an: „Haben Sie die Schildkröte gesehen?“ Vermutlich ist sie weitergezogen, raus aus Österreich – wo es besser steht um ihre Zukunft. „Typisch – ein undankbares Gfrast.“
Unglaublich, unfassbar. Ich hatte solche Angst vor "Traiskirchen, das Musical". Stellt euch vor, Slavoj Zizek, die...
Posted by Simon Hadler on Freitag, 9. Juni 2017
Gelacht wird viel an diesem Abend - aber nicht über billige Schenkelklopfer. Ohne zu bevorzugen, ohne zu kritisieren. Endlich passiert eine Aufarbeitung der Geschehnisse, endlich in einem Ton fern von jeglicher postulierter politischer Korrektheit. Ehrlich, tiefgründig - und durchaus witzig. Man möchte es ein zweites Mal sehen. Und die Nachbarn mitnehmen - die, die geholfen haben, und die, die Angst haben vor dem Unbekannten, vor dem anderen.
Elisabeth Stuppnig, für ORF.at