Exzentrische Versöhnung mit dem Theater
Wer kennt sie nicht, die monotone Stimme des Sprechers, der das Publikum bittet, seine Mobiltelefone abzuschalten? Bei den Wiener Festwochen ist sie fixer Bestandteil des Abendrituals. Pippo Delbono allerdings spricht diese Worte selbst, nein, er haucht sie förmlich in das Mikrofon, um anschließend kokett zu fragen: „Wer sagt, dass man sich im Theater vergnügen soll?“ Mit diesem einfachen Kunstgriff löst der Regisseur die Illusion des Theaters auf. Ab sofort fragt man sich, was an diesem Abend eigentlich echt ist und was künstlich.
Die Orchidee als zweischneidiges Schwert
Das perfekte Symbol für Widerspruch zwischen Natur und Kunst sei die Orchidee. Man könne kaum unterscheiden, was an ihr echt und was unecht sei, erklärte dem Theatermacher einst eine Freundin. Eine überwältigende und bösartige Blume zugleich. Einerseits für ihre Schönheit bekannt, dient sie andererseits der Gottesanbeterin als Tarnung, um ihrer Beute aufzulauern.
In seinem zweistündigen Stück „Orchidee“ tritt Regisseur Pippo Delbono als Geschichtenerzähler auf. Was sich streckenweise wie eine Lesung anhört, speist sich in Wirklichkeit aus ganz persönlichen Erlebnissen des Regisseurs und seines Ensembles. Schauspielerin Grazia Spinella beschreibt zum Beispiel ihre ersten Eindrücke nach einem Umzug von Sizilien nach Dänemark und trägt das Lied vor, das sie damals immer sang.

Karine De Villers, Mario Brenta
Bobo ist seit 20 Jahren Teil des Ensembles von Pippo Delbono
Der kleinwüchsige Gehörlose Bobo ist ein Spiegel für den Zuschauer - nach einem Unfall sitzt der 80-jährige nun im Rollstuhl und ist - wie der Zuschauer im Theater, regungslos. Seine Geschichte: 45 Jahre lang lebte Bobo in einer psychiatrischen Anstalt, bevor Delbono ihn 1996 in sein Ensemble aufnahm und zum Schauspieler machte.
Verlust der Mutter als Inspiration
Witz und Ironie kommen in „Orchidee“ übrigens auch nicht zu kurz. Besonders wenn Delbono sich über sein eigenes, exzentrisches Verhalten oder über den Zuschauer, den „Europäer“, lustig macht und dabei einen verständnislosen Blick durch den Saal wandern lässt. Nachdem die Theatergruppe erfolglos versucht hat, das Publikum zum Tanzen zu animieren, witzelt Delbono, dass „in Wien alle Leute Angst haben, vor allem die Männer“.

Futura Tittaferrante
Delbono möchte mit dem Publikum in Kontakt treten
Denn so ein Verhalten versteht Delbono nicht, der im Tanz aufblüht und sich auf der Bühne der Musik des burkinischen Sängers Victor Deme hingibt. Er verbrachte viel Zeit in afrikanischen Ländern, wo die Menschen nichts haben und sich trotzdem ausgefüllt fühlen. In Rom habe man dagegen alles, aber dort fühle er, Delbono, sich unausgefüllt und leer.
Neben der Biographie des Regisseurs, steht auch die seiner Mutter im Mittelpunkt der experimentellen Dramaturgie. Das Publikum erfährt, wie sie war und erlebt die alte Dame kurz vor ihrem Tod. Delbono zeigt Videoaufnahmen, auf denen er liebevoll ihre schmächtige Hand hält und ihren Körper zum letzten Mal streichelt. Sie war Antrieb zur Entstehung des Stückes: „"Orchidee" ist aus einer großen Leere heraus entstanden, die meine Mutter hinterlassen hat, als sie für immer fortgegangen ist“. Das Stück folge dem Bedürfnis, eben diese Leere wieder zu füllen.
„Er liebt das Theater nicht mehr“
Im Vordergrund der projizierten Videoaufnahmen, mit denen Delbono versucht, die Vergänglichkeit festzuhalten, passiert Theater: Euphorische Tanzszenen, die taumelnd versuchen, die Unbegreiflichkeit der Welt zu fassen. Der Tanz zaubert ein Lächeln auf die Gesichter des Ensembles. Er ist echt. Und das Theater? Ein Kunstprodukt, das Delbono erst mit „Orchidee“ wieder ins Herz geschlossen hat. „Er liebt das Theater nicht mehr“, heißt es zunächst über den Regisseur, doch dann zitiert er wieder inbrünstig William Shakespeare, Georg Büchner und Anton Tschechow.
Die Versöhnung mit dem Theater mündet in einem Schwall von Liebeszitaten. Salopp werden sie dem Publikum entgegen geschmettert und die Schauspieler wirken dabei wie Marktschreier, die ihre Ware anpreisen. Nichts bleibt übrig von der Wahrheit der Aussagen von David Hume, Franz Kafka und Ezra Pound. Erst die nackten Körper, die tanzen und sich umarmen, konfrontieren das Publikum mit einer tieferen Wahrheit, die hinter echten Gefühlen steckt.

Karine De Villers, Mario Brenta
Gianluca Ballare und Pepe Robledo liegen sich in den Armen
Hinweis:
„Orchidee“ ist noch am 17., 18. und 19. Juni, jeweils ab 20.00 Uhr im Theater Akzent zu sehen. Das Stück wird auf Italienisch mit deutschen Übertiteln gespielt.
Zum ersten Mal ist der italienische Regisseur Pippo Delbono zu Gast bei den Wiener Festwochen. Seine theatralen Arbeiten wurden bereits in über 50 Ländern weltweit aufgeführt. Neben Theater und Tanz hat der Regisseur eine Leidenschaft für die Sprache des Films. 2003 drehte Delbono mit „Guerra“ (Deutsch: „Krieg“) seinen ersten Dokumentarfilm in Spielfilmlänge. Mit seinem letzten Film „Sangue“ (Deutsch: „Blut“) gewann er den so genannten Don Quijote-Preis der Internationalen Vereinigung der Filmgesellschaften auf dem Filmfestival von Locarno 2013.
„Orchidee“ feierte am 16. Juni im Theater Akzent Premiere und wurde - obwohl einige Zuschauer wegen der nackten Körper auf der Bühne das Stück frühzeitig verließen - mit langanhaltendem Applaus belohnt.
Yasmin Szaraniec, ORF.at