Ukrainisches Performancekollektiv "Dakh Daughters"

Festwochen

Feldbetten, Hundemenschen und politischer Rock’n’Roll

Die Festwochen 2016 sind vorbei. Unter der Leitung von Markus Hinterhäuser (Intendanz) und Marina Davydova (Schauspiel) hat sich das Festival experimentierfreudig gezeigt: Das Publikum schwamm auf Bällen, fuhr Karussell, war zu Gast bei Hundemenschen, schlummerte auf Feldbetten und rockte zur bitterbösen Politlyrik einer ukrainischen Frauenband. Für den neuen Intendanten, Tomas Zierhofer-Kin, liegt die Latte hoch. Er kündigte für 2017 bereits einen „Parsifal“ in der Inszenierung von Skandalkünstler Jonathan Meese an.

6.00 Uhr, Wahlsonntag. Die Sonne ist gerade aufgegangen, die Fassaden des MuseumsQuartiers leuchten. Ein Kehrfahrzeug der MA48 dreht im Hof seine Runden, im Untergeschoss der Halle E hört man leises Atmen, auf zwei Dutzend Schaumstoffmatten liegen Menschen und schlafen. Es gehört Vertrauen dazu, an diesem öffentlichen Ort neben Unbekannten einzunicken.

Jan Fabres 24-Stunden-Performance „Mount Olympus – To Glorify the Cult of Tragedy“ schuf dieses Vertrauen, indem sie das Publikum im kollektiven Exzess einte. Eine Nacht und einen Tag lang tauchte man gemeinsam ab in die Welt der antiken Tragödie - man hörte Iokastes Wehklagen, sah Ödipus verzweifeln und ließ sich mitreißen, wenn drei Dutzend Togaträger zu Dubstep-Beats twerkten. Blut spritzte, Talkum und Glitter überzuckerten die Bühne – und zwischendurch schliefen Performer und Publikum vor den Augen der anderen erschöpft auf dem Boden oder auf bereitgestellten Feldbetten ein.

Die eigene Wahrnehmung umkrempeln

Immer wieder gelang es den Festwochen heuer - wie mit Fabres Monumentalaktion – die eigene Wahrnehmung derart umzukrempeln, dass man die Welt draußen wie frisch gewaschen, neu und anders wahrnahm. Brainwashed, eyewashed, artwashed - ein gutes Gefühl.

Dionysos in "Mount Olympus"

Festwochen / Wonge Bergman

Andrew Van Ostade in Jan Fabres Monumentalaktion „Mount Olympus“

36 Produktionen waren von 13. Mai bis 19. Juni zu sehen: darunter vier Uraufführungen, zwei Neuinszenierungen und neun Premieren im deutschsprachigen Raum. Neben dem großen, prominent beworbenen Fabre-Event, das ORF.at mit einem Liveticker begleitete, gab es viele kleinere Produktionen, die das Versprechen des Intendanten Hinterhäuser in einem Interview („Zeigen, was Wien noch nicht gesehen hat“) einlösten.

Kleine Mittel, große Wirkung

So wie etwa Franz Xaver Kroetz’ stummes Solo „Wunschkonzert“ in der minimalistischen Inszenierung von Yana Ross - der vielleicht intensivste Abend der heurigen Festwochen. 80 Zuschauer wurden, im brut um eine kleine Wohninsel stehend, zu Zeugen eines einsamen Suizids. Man war verdammt zum Stehen, Glotzen, Nichtstun, während der polnische TV- und Theaterstar Danuta Stenka die Lebensmüde derart überzeugend gab, dass man am liebsten eingegriffen hätte. Am Ende des Stückes folgte Regisseurin Ross eben diesem Impuls und nahm die sichtlich erschöpfte Hauptdarstellerin in die Arme.

Abschlussapplaus bei "Wunschkonzert" / Jana Ross + Danuta Stenka

Maya McKechneay

„Wunschkonzert“-Regisseurin Yana Ross umarmt Darstellerin Danuta Stenka

Beeindruckend bespielte eine Woche zuvor auch das französische Duo Stereoptik die rohe Architektur des brut, indem es mit Scherenschnitten, Animationsleuchttischen und Overheadprojektoren ihren „Dark Circus“ an die Wand warf.

Und auch der katalanische Performer Daniel Espinoza erzielte im brut mit kleinen Mitteln große Wirkung, wenn er unter dem ironischen Titel „Mein Großes Werk/ Mi Gran Obra“ Figürchen aus dem Modelleisenbahnladen existentielle Dramen durchleben ließ, die die Zuschauer mit Operngläsern beobachten konnten.

Die litauische Crew von „Dugne/ Nachtasyl“ (nach der berühmten Vorlage von Maxim Gorki) setzte ebenfalls auf Minimalismus, als sie das brut in eine Trinkhalle verwandelte, wo die Darsteller sich und dem Publikum reichlich Wodka einschenkten: „Trink, du Kamel, gleich kommt die Dürre!“ Ein eher durchwachsener Abend, zumal die Interaktion zwischen Darstellern und Publikum unter der Untertitelungsverzögerung litt.

Castorf: Gesamtkunstwerk mit Längenproblem

Im Gegensatz zum kargen Bühnenbild des „Nachtasyls“ (bestehend aus Tisch, Sesseln und einem Berg Bierkisten) ging Frank Castorfs neuer Bühnenbildner (Aleksandar Denic als Nachfolger des verstorbenen Volksbühne-Stars Bert Neumann) in die Vollen: Die Drehbühne von „Tschewengur“ samt einem gigantischen Original-Sowjet-Lokomotivenrumpf (mit der Aufschrift „Josef Stalin“) war ein Kunstwerk für sich und ließ sich wunderbar multimedial bespielen. Castorfs absurde Kommunismusdystopie machte Spaß – übernahm sich allerdings mit der massiven „Platonow“-Textmenge (der Souffleur blieb nach der Pause gleich mit auf der Bühne) und der Dauer von fünf Stunden.

Bühnenbild von F. Castorfs "Tschewengur"

Festwochen / Thomas Aurin

Lokomotive „Josef Stalin“: der Star des „Tschewengur“-Bühnenbilds

Neue Körpererfahrungen fürs Publikum

Eine Drehbühne, die man nicht nur anschauen, sondern selbst befahren konnte, drehte sich zu Beginn der Festwochen im Künstlerhaus: „Fyodor’s Performance Carousel“ wurde von neun Performerinnen und Performern zum Thema Schwangerschaft bespielt. Der peruanische Künstler Sebastian Alvarez verkehrte dieses Motiv in sein Gegenteil und ließ sich lebendig in einem Haufen Erde begraben. Spaß machte aber vor allem eine weiche Latexhaut, die sich wie ein überdimensionaler Mutterbauch über eines der Karussellsegmente spannte - man hielt die Hand dagegen, kickte, trat, zwickte es von der anderen Seite.

Fyodor's Performance Carousel, Sebastian Alvarez

Maya McKechneay

Sebastian Alvarez - lebendig begraben auf „Fyodor’s Performance Carousel“

Gleich ums Eck von Fyodors Karussell bot sich dem Festwochen-Publikum eine weitere neue Körpererfahrung: Das belgisch-französische Künstlerkollektiv France Distraction hatte hinter dem Foyer des Künstlerhauses 25.000 schwarze Plastikbälle mit Philosophensprüchen in ein Becken gefüllt und unter dem Titel „Les Thermes“ zum Baden eingeladen. Tatsächlich hielt die magische Wirkung des Bällebades bis zum Ende der Festwochen an: Wer eintauchte, lächelte sein seligstes Kinderlächeln.

Die Lieblinge der Theaterkritik

Apropos Kinder - von denen man ja auch viel lernen kann: Rollenspiele zum Beispiel sind wichtig, um Aggressionen abzureagieren oder um Gruppendynamiken zu erforschen. Beides ermöglichten die Performer der Gruppe SIGNA in ihrer exzentrischen Mitmachkommune „Wir Hunde / Us Dogs“, für die sie monatelang ein desolates Wiener Zinshaus bezogen und dort gemeinsam mit den Hundemenschen („Hundsche“) hausten. Neben dem in russischer Gebärdensprache aufgeführten Klassiker „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow, wurde „Wir Hunde“ unter den Wiener Theaterkritikern als Höhepunkt der Festwochen gehandelt.

Freunde der Klassik zeigten sich unterdessen begeistert von der Weinberg-Oper „Die Passagierin“, der das scheinbar Unmögliche gelang, das Thema Holocaust in einem Musiktheaterstück zu bearbeiten, während Achim Freyers Version der Beethover-Oper „Fidelio“ - eine Eigenproduktion der Wiener Festwochen – gemischte Kritiken erhielt.

Bällebad "Les thermes" in Festwochenzentrum

Maya McKechneay

Seliges Lächeln im Bällebad „Les thermes“ von France Distraction

Bühne frei für Gesellschaftskritik

Um festgefahrene Geschlechterrollen und den Druck, den sie erzeugen, ging es in den Stücken „MDLSX“, eine Adaption von Jeffrey Eugenides’ Transgenderroman „Middlesex“, und der iranischen Produktion „Die Anpassung“, in der drei Frauen aus ihrem Leben in Unterdrückung erzählen. Und auch „Orchidee“, die emotionale Performance des offen HIV-positiven Regisseurs Pippo Delbono, war ein durch und durch sympathisches, politisches Statement für Toleranz. Schauspielchefin Marina Davydova legte in ihrer Programmierung Wert auf das gesellschaftskritische Potenzial der Produktionen: Ein schönes Beispiel für eine zeitgemäße Umsetzung war Falk Richters religionskritische Performance mit Jugendlichen, „Citta del Vaticano“.

Szenenfoto aus "MDLSX"

Festwochen / Alessandro Sala Cesura

Mann und Frau zugleich: Silvia Calderonis Transgenderperformance „MDLSX“

Das im Vorfeld gehypte, dokumentarische Whistleblowerstück „Oameni Obisnuiti/Gewöhnliche Menschen“ der rumänischen Newcomerin Gianina Carbunariu erhob dagegen den mahnenden Zeigefinger etwas zu demonstrativ. Man fühlte sich geschulmeistert. Subtiler näherte sich der ungarische Film- und Theatermacher Kornel Mundruczo, ein Stammgast der Wiener Festwochen, in seiner bedrückenden Gesellschaftsparabel „Latszatelet/ Scheinleben“ seinem Thema Minderheiten. Und in Tom Kühnels und Jürgen Kuttners Bearbeitung des Peter-Weiss-Stücks „Der Auftrag“ trauerte Corinna Harfouch als Pierrot bildmächtig um die gescheiterte Revolution.

Action für alle Sinne

Zwei weitere erwartete Höhepunkte hielten, was sie versprachen: „The Encounter“ , die Kopfhörerperformance des britischen Tausendsassas Simon McBurney versetzte das Publikum der Halle E in einen akustischen Urwaldrausch. Obwohl es hier mehr zu hören als zu sehen gab, halten sich die Fantasiebilder, die McBurneys psychedelische Performance entstehen ließ, hartnäckig im Gedächtnis. So wie einige Szenen aus Konstantin Bogomolovs poppiger Oscar-Wilde-Adaption „Ein idealer Gatte“, eine Superreichenkomödie, die trotz einiger Längen durch Witz und Sex-Appeal bestach.

Simon McBurney in "The Encounter"

Festwochen / Robbie Jack

Ließ den Urwald im Kopf entstehen: Simon McBurney

Apropos Sex-Appeal: Davon gab es jede Menge beim ungestümen Auftritt der ukrainischen Frauenband „Dakh Daughters“ (siehe Aufmacherbild), die ihre Instrumente wie die Kostüme in sekundenschnelle wechselten: wild und virtuos.

Eine Filmreihe mit den kaum bekannten Kinoarbeiten der New Yorker Kulturtheoretikerin Susan Sontag, „Susan Sontag Revisited“, und eine Ausstellung zum Thema Flucht und Migration, „Into the City - Universal Hospitality“, rundeten das Programm der Festwochen ab.

Die Festwochen 2017 werden unter der Leitung von Tomas Zierhofer-Kin von 12. Mai bis 18. Juni stattfinden.

Maya McKechneay, ORF.at

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