Szene aus "The Encounter"

Festwochen/Robbie Jack

„The Encounter“: Klangexplosionen im Kopf

Eine der außergewöhnlichsten Produktionen der diesjährigen Festwochen ist ein Theaterstück, das praktisch nur aus Geräuschen und Klängen besteht. In „The Encounter“ entführt der britische Regisseur Simon McBurney das Publikum über Kopfhörer auf eine Reise ans andere Ende der Welt. Eine geheimnisvolle Dschungelwelt eröffnet sich, und die Performance wird zu einer akustisch-visuellen Erfahrung, die unter die Haut geht.

„Bitte setzen Sie jetzt Ihre Kopfhörer auf“, lautet die Regieanweisung zu Beginn von „The Encounter“. Und weiter: „Ich werde jetzt in Ihr Ohr atmen, und es könnte heiß werden.“ Regisseur und Darsteller McBurney erklärt dem Publikum mit vollem Körpereinsatz, was es die nächsten zwei Stunden zu erwarten hat – zumindest von technischer Seite her. Schließlich ist das ausgefeilte Soundsystem das Herzstück der Performance und für die Zuschauer bzw. Zuhörer ausschließlich über Kopfhörer zugänglich.

Szene aus "The Encounter"

Festwochen/Gianmarco Bresadola

„This is a Journey into Sound“

Doch auch wenn mit einem „Spaziergang rund um das Gehirn“ genau demonstriert wird, wie das Bewusstsein durch ausgeklügelte Tontechnik ausgetrickst wird, glaubt man trotzdem immer wieder, McBurneys Atem im rechten Ohr regelrecht spüren zu können. Im linken hört man die Stimme von Loren McIntyre (ebenfalls von McBurney mit amerikanischem Akzent gesprochen), dem Helden der Geschichte, die dem Stück zugrunde liegt.

Inspiration durch Dschungelabenteuer

Der US-amerikanische Fotograf McIntyre ließ sich 1969 von einem Flugzeug im Amazonas-Dschungel absetzen, um nach den Mayoruna-Indianern, den sogenannten Katzenmenschen, zu suchen. Seine abenteuerliche Reise wurde vom rumänischen Autor Petru Popescu in dem Buch „Amazonas“ aufgeschrieben, welches wiederum McBurney zu „The Encounter“ inspiriert hat.

Nach der Begegnung („Encounter“) mit den Mayorunas dringt die Hauptfigur immer tiefer in die Wildnis vor. Gemeinsam mit McIntyre verliert der Zuschauer die Orientierung im Dschungel. Schließt man die Augen, glaubt man dank der eindringlichen Stimme(n) McBurneys und der Raffinesse des Sounddesigns tatsächlich, im Dschungel am Amazonas zu sein. Der Angriff eines Moskitoschwarms bohrt sich quälend ins Ohr, das Knurren eines Jaguars, das Rauschen eines Flusses - wahre Klangexplosionen gehen in Wellen unter die Haut.

Bühnenbild "The Encounter"

ORF.at/Sonia Neufeld

McBurney braucht auf seiner Bühne nicht viel. In der Mitte steht ein binaurales Mikrofon in Form eines grauen Kunststoffkopfes. Eine binaurale Tonaufnahme ist eine Aufnahme von Schallsignalen, die bei der Wiedergabe über Kopfhörer einen natürlichen Höreindruck mit genauer Richtungslokalisation erzeugen soll und somit die beste technische Lösung ist, räumliches Hören realitätsnah zu ermöglichen.

Jenseits von Raum und Zeit

Vielschichtig wird das Stück durch die verschiedenen Erzählebenen: die gesprochenen Erinnerungen des Abenteurers, die Stimme des Erzählers McBurney und die wiederkehrenden, rührenden Dialoge zwischen ihm und seiner kleinen Tochter, die nicht einschlafen kann und das Arbeitszimmer des Vaters direkt durch die Ohren des Publikums betritt.

Das Gefühl für Raum und Zeit schwindet, die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden verwischt. Und plötzlich dreht sich in der Abgeschiedenheit des Dschungels alles um die eine Frage: Ist die Zeit nur eine Erfindung, eine „effiziente Maschine“ der westlichen Welt? Und wie ist Bewusstsein möglich, wenn man nur im Hier und Jetzt lebt?

Szene aus "The Encounter"

Festwochen/Robbie Jack

Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen

Die Kritiker in Großbritannien überschlugen sich vor Begeisterung. Von einer „unvergesslich brillanten Show“ und dem „Theaterstück des Jahres“ war die Rede. Auch der britische Schauspielstar der Stunde, Benedict Cumberbatch, geriet nach der Premiere in London ins Schwärmen: „Es ist magisch, obwohl man zu Beginn erklärt bekommt, wie alles funktioniert. Eine ganz besondere Erfahrung.“

Veranstaltungshinweis

„The Encounter“ ist im Rahmen der Festwochen noch am 3. und 4. Juni um 19.30 Uhr und am 5. Juni um 15.00 Uhr im MuseumsQuartier (Halle E) zu sehen.

Tosender Applaus für McBurney

McBurney, Gründer der renommierten Avantgarde-Theatergruppe Complicite, war bei den Wiener Festwochen bereits 2007 mit „A Disappearing Number“ und 2012 mit seiner Inszenierung von Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ eingeladen.

Mit „The Encounter“ sorgte er bei der Erstaufführung im Raum der Festwochen für tosenden Applaus im Wiener MuseumsQuartier (MQ). Denn die Idee, ein Livehörspiel als elektrisierendes Kopfkino mit noch nie dagewesenem Surroundsound zu inszenieren, eröffnet ganz neue Perspektiven in der Frage, was Theater alles sein kann.

Sonia Neufeld, ORF.at

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