Szene aus "Mount Olympus"

Festwochen/Wonge Bergmann

Die Götter müssen verrückt sein

„Mount Olympus - To Glorify The Cult of Tragedy“: Jan Fabres Traumdeutung schlafwandlerischer Nächte, gespeist von Bildern der griechischen Mythologie, hat das Publikum in Wien 24 Stunden wach gehalten, eingeschläfert - und begeistert. 15 Minuten frenetischer Applaus waren der Dank. Einige grundsätzliche Fragen wurden geklärt: Kann man mit Lorbeerbäumchen kopulieren? Können Frauen Eier legen?

Am Samstag um 19.30 Uhr hatte sie im Wiener MuseumsQuartier begonnen und etwas über 24 Stunden gedauert, jene Performance, die der belgische Theatermacher Fabre gemeinsam mit der Tanztruppe Troubleyn erarbeitet und bereits in mehreren Städten gezeigt hat. Von Aufführung zu Aufführung wird der Ablauf überarbeitet. Was wie spontane Improvisation wirke, sagte Fabre im ORF.at-Interview, sei in Wahrheit hart erarbeitet und streng durchchoreografiert.

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Doch zumindest hier, in Wien, wirkte nichts, als wäre es dem Zufall überlassen worden. Trotz übermenschlicher Anstrengung: akkurat die Bewegungen der in jeder Sekunde professionell agierenden Darsteller - und schlüssig die Szenenfolge. Ebenso überzeugt hat der Einsatz von wummernden Sounds und von Musik: Hip-Hop, Dubstep, Deep House, Sirtaki, Oper. Selbst die Lichtregie war außergewöhnlich - sie formte auf der Bühne eine sich wandelnde Skulptur: 30 Glühbirnen mit kugelrunden Schirmen, die jede für sich gedimmt und hinaufgezogen und heruntergelassen werden konnten.

Kreischen, kotzen, kopulieren

Diese Akkuratesse braucht es auch, wenn auf der Bühne gekotzt wird, wenn Frauen stehend in Glasgefäße urinieren, Pornoszenen nachgestellt werden und 20 Personen wild um sich schlagen, kreischen und schluchzen, wenn rohes Fleisch und Eingeweide geworfen werden, wenn echtes menschliches Blut fließt und Tragödie und Komödie einander abwechseln, wenn mehr als 20 griechische Heldinnen, Helden, Göttinnen und Götter auftreten: Denn 24 Stunden Chaos - das würde rasch langweilig. Es braucht also eine strenge Dramaturgie - und höchste Konzentration.

Hinweis

ORF.at hat 24 Stunden live mitgetickert und vor laufender Handycam mit Regisseur und Hauptdarsteller gesprochen - nachzulesen in news.ORF.at/festwochen16.

Mehrere rote Fäden ziehen sich lose durch den „Mount Olympus“-Tag. Ein grausamer Krieg wütet. Die Soldaten bereiten sich vor, zahllose werden gemetzelt - und als ob das nicht reichen würde, lässt der grausame Kriegerkönig die Frauen und Kinder der Unterlegenen massakrieren. Rache holt ihn ein. Doch davor, währenddessen, danach, geht das Leben weiter: Eifersüchteleien, Sex, Drogen, Philosophie - was man eben so kennt aus dem Götter- und Heldenalltag des antiken Sagenkanons.

Ein Schlafloser teilt sein Schicksal

Viel wurde bereits über vorangegangene Aufführungen geschrieben. Dass es Fabre darum gehe, den Götterkosmos neu zu beleben und auf seine Gültigkeit im Hier und Jetzt abzuklopfen, etwa. Das legt zunächst auch Fabre nahe: „Wir wollen einfach die Geschichten der griechischen Mythologie neu erzählen, weil sie auf gewisse Weise sehr modern und universell sind. Sie erzählen von dir und mir.“ So mag man die eine oder andere Szene mit Gegenwartsbezug interpretieren. Männer mit seltsamen Allmachtsfantasien etwa, die sich am laufenden Band lächerlich machen und trotz aller Selbstüberschätzung zwar nicht allmächtig sind, aber zerstörerisch wirken können.

Viel wichtiger jedoch ist die zweite Ebene, die zwischen den Szenen, zwischen den Zeilen, durch die Bilder, im Zuschauerraum und im ganzen MuseumsQuartier zu tragen kam. Um diese Ebene nachvollziehen zu können, sind Informationen aus Fabres Biografie aufschlussreich. Erstens leidet der Regisseur seit seiner Kindheit an chronischer Schlaflosigkeit. Zweitens waren sowohl sein Großvater als auch sein Vater Biologen. Das Zerlegen, Ausweiden, Aufspießen von Körperteilen, der mikroskopische Blick auf das Innere - nicht nur im metaphysischen, sondern auch im physischen Sinn: Das begleitet Fabre, seit er denken kann. Dazu kommen Jahrzehnte der Kollektiverfahrung im Kommunikationsraum Theater.

Tagesreste, Ängste, Begierden

Ohne diese zweite Ebene wäre „Mount Olymp“ ein One-Line-Joke, ein Mythenmarathon an einem schlechten Provinztheater, komödiantisch hier, tragisch dort, gespickt mit zotigen Pennälerwitzen und reichlich flach in seinen Aussagen. Es braucht die 24 Stunden, in denen Fabre sein Publikum gemeinsam mit den Darstellern immer weiter bergab führt in die Untiefen des Unbewussten, wo Tagesreste, Ängste, Begierden und Traumfetzen einen wabernden Morast bilden.

Fabre teilt seine Erfahrung des Schlafentzugs und er teilt seine körperliche Interpretation dessen, was dem menschlichen Handeln zugrunde liegt: Status wollen. Bestimmen wollen. Und gleichzeitig: alle Zügel fahren lassen wollen, mit jedem ficken wollen, vor Schmerz losschreien wollen, jemandem die Gedärme herausreißen wollen, mit dem man eine Rechnung offen hat. Er zeigt das ganze Spektrum des Scheiterns und Reüssierens in einer Welt, die nur vermeintlich auf Vernunft aufgebaut ist.

Twerken zum Einstieg

Dem Zuschauer wird gleich zu Beginn empfohlen, sich auf das Geschehen einzulassen und dabei nicht rational zu denken. Den körperlichen Einstieg macht Fabre leicht: Während einer Drum-and-Bass-Nummer mit halbnackt twerkenden Darstellern fahren einem die Beats in alle Glieder. Ein überdrehter Dionysos (er ist der heimliche Star des Abends) schüttelt als „Master of Ceremony“ die üppig vorhandenen Speckfalten und verspricht, den ganzen Saal in den Wahnsinn zu treiben - „run to the hills with your mind full of drugs“. Und Tänzer - Männer und Frauen - springen bis zur Erschöpfung Seil, mit im Takt knallender Kette am Ende. Körperlichkeit bis zum Kollaps.

Später wurde neben auf- und erregenden Szenen auch Tiefenentspannung geboten, autogenes Training als Gruppenerfahrung. Für die Zuschauer standen Feldbetten in einem Ruheraum bereit. Im Foyer gab es zu essen und zu trinken. Selbst im Saal durfte geschlafen werden (Schnarchen ist ein weit verbreitetes Phänomen). Zwei „Traumphasen“ waren eingebaut, bei denen sich auch auf der Bühne so gut wie nichts tat, wenn man von schlafenden, in Leinen gewickelten Körpern absieht. Man durfte kommen und gehen, wie man wollte.

Dionysos-Darsteller Andrew van Ostade auf die Frage, ob wir mehr Dionysisches im Alltag brauchen #mo24

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Kollektive Trance einer eingeschworenen Community

Im Laufe der Nacht stellte sich, wie geplant, kollektive Trance ein, die sich im Lauf des Sonntags noch steigerte. Langsame, behutsame Bewegungen im Zuschauerraum, eine eingeschworene Community bildete sich hinter, auf und vor der Bühne. Es breitete sich ein wohliges Gefühl der Verbundenheit aus. Ein Erfahrungsraum war geöffnet, in dem nichts obszön wirkte oder flach. Jetzt hatte Fabre das Publikum dort, wo er es wollte, und konnte sein Bestiarium in all seiner Brutalität, Geilheit, Verzweiflung und Lächerlichkeit vorführen.

„Mount Olympus“ läuft weniger auf eine einzelne Erkenntnis hinaus, die man mit jenen, die nicht dabei waren, teilen könnte. Vielmehr ist dieses Opus eine Erfahrung, ein Gefühl, ein Traum. „Der Schlaf verbarg mir seine Glückseligkeit“, heißt es an einer Stelle. Der Schlafentzug hingegen hat eine therapeutische Wirkung, zumindest, wenn er so zelebriert wird wie hier. Die griechische Mythenwelt lässt seit jeher Projektionen des eigenen Schicksals zu. Hier werden die Projektionen beinahe zu eigenen Erfahrungen. Das Publikum dankte dem Regisseur und den Darstellern für diese intensiven Erfahrungen mit einem intensiven 15-minütigen Applaus. Es waren 24 Stunden der Extremsituationen und Glücksmomente.

Und noch ein Eindruck vom dionysischen Applaus #mo24

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Lorbeerbäumchen und Eier

Um die sicherlich sehnsüchtig erwartete Antwort zu den eingangs gestellten, Fragen zu liefern: Ja, Männer können mit Lorbeerbäumchen kopulieren. Und ja, Frauen können Eier legen (wenn sie diese zuvor eingeführt haben). Ungläubiges Staunen war erlaubt, Lachen dezidiert erwünscht. Einen ausdrücklichen politischen Kommentar - etwa zur parallel stattfindendenen Bundespräsidentenwahl - ersparte sich Fabre übrigens. Aber wie sagt der Chor so schön an einer Stelle: „Eure Mächte sind jämmerlich!“

Simon Hadler, ORF.at

Aus und rund um die Halle E berichten über 24 Stunden Maya McKechneay, Florian Bock, Simon Hadler, Gerald Heidegger und Johannes Luxner, ORF.at. Im Vorfeld sprach Sophia Felbermair, ORF.at, mit Jan Fabre in Antwerpen.

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