Per Luxusliner in die Hölle Auschwitz
Auf einem Ozeandampfer nach Brasilien glaubt die deutsche Diplomatengattin Lisa, in einer Passagierin unerwartet die für tot gehaltene Auschwitz-Gefangene Marta zu erkennen, und wird dadurch von ihrer verdrängten Vergangenheit als KZ-Aufseherin eingeholt. Ihr ahnungsloser Gatte Walter fürchtet um seine Karriere und verlangt die Wahrheit. Die Grenzen von Zeit und Ort lösen sich in Lisas Erinnerung auf, plötzlich ist der Lageralltag mit seinen kahlköpfigen und ausgezehrten Insassinnen allgegenwärtig.
Raum und Zeit verschwimmen
Möglich macht die spielfilmartige Collage aus Gegenwart und Rückschau eine Drehbühne, die den Blick vom Schiffsrumpf in den -bauch freigibt, der sich als Konzentrationslager herausstellt. Die Schiffsplanken verwandeln sich innen in Barackenwände, die Reling in Wachtürme, die Schotten in das Lagertor, Lautsprecher und Scheinwerfer sind Requisiten beider Orte. Die Lichtregie spiegelt das wider: Auf dem Schiff ist es hell, im KZ dahinter ist es dunkel.

Oper Frankfurt/Barbara Aumüller
Lisa und ihr Mann Walter auf dem „Totenschiff“
Höhepunkt ist ein Tanzabend auf dem Schiff, als ein Walzer erklingt, den der Lagerkommandant von Martas Verlobtem Tadeusz spielen lassen wollte. Plötzlich reißen sich die elegant gekleideten Menschen Perücken und Abendgarderoben vom Leib, legen sie auf einen Haufen und ziehen die gestreifte Häftlingskleidung über. Tadeusz spielt nicht den geforderten Walzer, sondern geigt den SS-Männern die d-Moll-Chaconne von Johann Sebastian Bach auf.
Musik gegen das Vergessen
Mit Musik bietet er seinen Peinigern die Stirn und bezahlt dafür mit dem Leben. Die Chaconne steigert sich zu einem von Chor und Orchester vorgetragenen Requiem, bis Glockenschläge symbolisch („Wem die Stunde schlägt“) das Finale einläuten. Die Handlungsschauplätze gehen nun ohne Drehbühne ineinander über, die Zeitebenen sind endgültig verwischt. Am Ende steht die Überlebende Marta an der Bühnenrampe, wo sie sich an ihre getöteten Mithäftlinge und Tadeusz erinnert und mit der Botschaft „Wenn die Stimmen verhallt sind, dann gehen wir zugrunde“ an die Nachgeborenen richtet.

Oper Frankfurt/Barbara Aumüller
Tadeusz beugt sich nicht dem Willen des Lagerkommandanten
Die Partitur der „Passagierin“ beruht weitgehend auf einer erweiterten Tonalität. Sie ist eingängig zum Hören und aus einem dichten Geflecht von an Richard Wagner gemahnenden Leitmotiven konstruiert. Zu harten und mitunter spröden Klängen, die das Grauen in Auschwitz reflektieren, mischen sich lyrische und leise Töne, die die zwischenmenschlichen Beziehungen ausloten. Weinberg zitiert und parodiert Ludwig van Beethoven und Dimitri Schostakowitsch, russische Volksmusik, Jazz und Chansons, Kinderlieder wie „Oh, du lieber Augustin“ und eben Bachs berühmte Chaconne.
Weinbergs Musik ist nicht deskriptiv oder episodisch, sondern behält trotz aller Bezüge zur Handlung ein großes Maß an Selbstständigkeit. In ihrem Wechsel von Nahaufnahme (Lied) auf Totale (sinfonische oder Chor-Abschnitte) läuft sie - wie im Film - parallel und synchron zur Handlung her. Den Figuren sind einzelne Instrumente suggestiv zugeordnet, die Celesta für Marta, Xylofon, Marimba und Harfe für die KZ-Insassen, Schlagwerk und Blech für die SS und immer wieder Streicher für diese zwischen KZ und Ozeandampfer pendelnde Gesellschaft. Der Chor partizipiert nicht am Geschehen und kommt häufig aus dem Off gleichsam die Handlung wie in griechischen Tragödien kommentierend.
Hervorragendes Ensemble
Die Darsteller sind pausenlos gefordert. Eindrucksvoll in Stimme und Spiel präsentiert sich Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner als Lisa, der die Gratwanderung zwischen Mensch und Monster hervorragend gelingt. Ebenso eindrucksvoll profiliert sich Sara Jakubiak mit ihrem hellen Sopran als Marta. Brian Mulligan brilliert in der Baritonpartie des Tadeusz, Peter Marsh schließlich gelingt ein prägnanter Walter.

Oper Frankfurt/Barbara Aumüller
Marta und die anderen KZ-Insassinnen: „Ich lebe, du lebst, sie lebt“
Engagiert und nicht ohne Witz zeigt sich das restliche Ensemble, klangstark und überzeugend macht sich der Chor der Oper Frankfurt. Christoph Gedschold am Pult des Frankfurter Orchesters changiert gekonnt zwischen ins Fortissismo getriebenen und besinnlichen Momenten. Stets stellt er das Orchester in den Dienst der Solisten und ordnet sich diesen begleitend und stimmungsgebend unter.
Sensible Zeichensetzung
Was sich in Auschwitz zwischen Lisa und Marta, der Täterin und dem Opfer, abspielt, ist bis zum Showdown die eigentliche Handlung der Oper. Die Idee dahinter ist, die Mischung aus Schuld und Sühne, aus Erinnerung und Verleugnung metaphorisch als inneren Monolog Lisas darzustellen. Die Zuschauer blicken gleichsam in ihren Kopf, wenn sie ins grauenvolle Schiffsinnere blicken. So kann auch Walter mit Pfeife und Buch in der Hand immer wieder durch das KZ-Gelände stapfen – gleichgültig und zugleich, ohne selbst bemerkt zu werden. Er ist der Repräsentant der Verdrängungsmentalität der Nachkriegszeit.
In ihrer Zeichensetzung geht die Regie von Anselm Weber sehr sensibel um und zeigt das KZ-Inferno zurückhaltend und ohne Pathos. Das Grauen ist zwar allgegenwärtig, doch heben Stilisierungen etwa auch durch Videoeinblendungen von handgeschriebenen Opfernamen und Noten aus der Partitur allzu viel Bühnennaturalismus auf - im Bewusstsein, dass sich das Unvorstellbare ohnehin nicht veranschaulichen lässt. Ohne mit dem bis zum didaktischen Überdruss strapazierten Zeigefinger gerät die Inszenierung so zu einem subtilen Plädoyer für die Notwendigkeit, sich zu erinnern.
Die Frage der Authentizität
Ungeachtet dessen erscheint eine Oper über Auschwitz als Wagnis. Führt die Ästhetisierung des Schreckens nicht zur Verhamlosung? Das Diktum des Philosophen Theodor W. Adorno, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch, wirkte in der Nachkriegszeit wie ein Darstellungsverbot, erst in den 1980er Jahren setzte ein Boom ein, Auschwitz als Metapher des Zivilisationsbruchs, als Symbol des industriellen Massenmordes ästhetischen Ausdruck zu verleihen.

Oper Frankfurt/Barbara Aumüller
Die Täter machen die Opfer zu Nummern
Die „Passagierin“ ist dementsprechend der Zeit ihrer Entstehung Ende der 1960er Jahre und der für damals typischen Atmosphäre der Verdrängung und noch zögerlichen, wenn nicht gar ausgesetzten Aufarbeitung der Vergangenheit verhaftet. Ihr Gewicht erhält Weinbergs Oper heute aber als erschütternde Studie psychosomatischer Abgründe der Täter. Ihr Gewicht erhält sie außerdem, indem sie den Opfern statt Nummern wieder Namen gibt, so wenn sich die Frauen in ausschweifenden Melismen aus dem KZ hinausträumen in ein besseres Leben.
Hinweis
„Die Passagierin“ ist am Freitag um 19.30 Uhr erneut im Theater an der Wien zu sehen.
Gewicht erhält sie außerdem durch die spürbare Authentizität der gleichnamigen Romanvorlage von Zofia Posmysz (geboren 1923), die darin auf eigene Erlebnisse zurückgreift. Webers Neuinterpretation ist überzeugend und wurde mit kräftigem und langanhaltendem Applaus, der mit einem Schlussauftritt von Posmysz in Standing Ovations überging, bestätigt. Noch einmal Adorno zitiert: Hier hat das „perennierende Leiden sein Recht auf Ausdruck“ gefunden.
Armin Sattler, ORF.at
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Interview mit Anselm Weber in oe1.ORF.at
Links:
- Wiener Festwochen
- Mieczysaw Weinberg (Wikipedia)
- Die Passagierin (Wikipedia)
- Zofia Posmysz (Wikipedia)