Probenfoto aus "Scheinleben"

Festwochen / Marcell Rév

Ich ist ein anderer

Ist man von Geburt an, wer man ist? Oder kann man die eigene Identität frei wählen? Von einem besonders tragischen Versuch, diese Frage zu beantworten, erzählt der ungarische Filme- und Theatermacher Kornél Mundruczó in seinem mutigen, hochpolitischen Stück „Scheinleben“, das bei den Wiener Festwochen uraufgeführt wurde. Bei der Premiere gab es stürmischen Applaus.

In einer Zeit, in der es immer wichtiger wird, die eigene Identität zu definieren, inszeniert der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó ein Schauspiel über die Frage, ob man sich von seinen familiären Wurzeln lösen, die eigene Herkunft leugnen und sich eine passende Identität maßschneidern kann. „Scheinleben“ – im ungarischen Original „Látszatélet“ – zeigt den zwanghaften Versuch eines jungen Mannes, das eigene Leben zu verbessern.

Diese Koproduktion mit dem von Regisseur Mundruczó mitgegründeten Budapester Proton Theater, die im Rahmen der Wiener Festwochen uraufgeführt wird, erzählt die Geschichte des jungen Mannes Szilveszter (Zsombor Jéger) der seit jeher unzufrieden ist mit seiner Abstammung aus einer Roma-Familie. Er wendet sich von der Verwandtschaft ab, um sich in der Anonymität der Großstadt Budapest neu zu erfinden. Allerdings misslingt die Verdrängung: Allmählich sammelt sich Selbsthass in Szilveszter - und es ist nur eine Frage der Zeit, wann dieser Mensch explodiert.

Probenfoto von "Scheinleben"

Festwochen / Marcell Rév

Dáriusz Kozma als Szilveszters Idealbild eines blonden, hellhäutigen Kindes

Als es schließlich zum Gewaltausbruch kommt, trifft er unverhofft Szilveszters personifiziertes Ideal-Ich in einer Welt voll dunkelhäutiger und schwarzhaariger Roma: ein blonder Junge lebt in Szilveszters ehemaliger Wohnung, wo sich immer noch Andenken an seine Kindheit stapeln. Hier sitzen sich die beiden zunächst schweigend gegenüber. Dann klettert Szilveszter über die Küchenschränke und zieht unvermittelt ein Schwert hervor. Was jetzt passiert, kann der Zuschauer nur ahnen. Eine Leinwand schiebt sich genau in diesem spannungsgeladenen Moment vor die Bühne, kurz überträgt eine Handykamera verwackelte, letzte Bilder des Geschehens. Dann wird die Zeitungsmeldung projiziert, die Mundruczó zu diesem Stück inspirierte.

Kein Krankenwagen für Roma

Beklemmend sind auch die Szenen mit Szilveszters Mutter (Lili Monori), die Einblicke in die neue Identität ihres Sohnes gewährt. Mit beeindruckender Mimik – Mundruczó projiziert Monoris Gesicht im Close-Up auf eine quadratische Leinwand – schildert diese vom Leben erschöpfte Frau ihr eigenes Schicksal als Roma. Aussiedlungsprogramme und Zwangswaschungen mit Ungezieferspray sind nur zwei der Torturen, die sie als Mitglied einer Minderheit über sich ergehen lassen musste.

Probenfoto von "Scheinleben"

Festwochen / Marcell Rév

Ergreifend emotional ist die Darstellung von Lili Monori als Roma-Mutter

Die Abneigung gegen Minderheiten zeigt sich im ungarischen Alltag derzeit wieder besonders stark. Mundruczó macht die Probe aufs Exempel und lässt scheinbar live bei der ungarischen Rettung anrufen. In den Roma-Bezirk kommt die Rettung nicht - und wenn dann erst sehr spät, erst dann, wenn alle ungarischen Bürger versorgt sind. Natürlich ist der Anruf inszeniert - aber die Vorstellung, im Zweifelsfall vom Staat im Stich gelassen zu werden, wirkt nach.

Multimediale Gesellschaftskritik

Die Geschichte von Szilveszter beruht auf einer wahren Begebenheit. 2005 wurde ein junger Bub und Angehöriger der Roma mit einem Messer in einem öffentlichen Verkehrsmittel attackiert. Während die Medien den Fall ausschlachteten, demonstrierte die Bevölkerung gegen Rassismus. Nach wenigen Tagen stellte die Budapester Polizei den Täter: ein Mitglied einer traditionalistischen, rechtsextremen Gruppierung und selbst, wie sein Opfer, ein Rom.

Die Uraufführung von „Scheinleben“ ist bereits die fünfte Produktion, mit der Mundruczó bei den Wiener Festwochen gastiert. All diesen Inszenierungen gemeinsam ist die schonungslose Art, in der der Regisseur mit den gegenwärtigen ungarischen Verhältnissen abrechnet. Bei aller Tragik verzichtet er allerdings nicht auf eine Prise Komik, wenn er sich mit Alltagsrassismus, Gewalt in Partnerschaft und Familie, Gentrifizierung oder Wohnungsmangel befasst.

Hinweis

„Scheinleben/Látszatélet“ ist bei den Festwochen noch am 22., 23. und 24. Mai, jeweils um 20.30 Uhr, in Halle G im Wiener MuseumsQuartier zu sehen. Das Stück wird in ungarischer Sprache mit deutschen Übertiteln gespielt.

Mundruczó baut diese Themen dramaturgisch aufeinander auf, vermischt sie und lässt das Publikum dennoch im Ungewissen darüber, was als Nächstes folgen wird. Gleichzeitig spielt der preisgekrönte Theater- und Filmregisseur mit beiden Darstellungsformen und lässt Videoeinblendungen parallel zum Geschehen auf der Bühne ablaufen. Die Videowand führt das Publikum vom zentralen Schauplatz, einer heruntergekommen Sozialwohnung in einem Budapester Roma-Viertel, hinaus in die Stadt, oder gibt detaillierte Einblicke in die Emotionen der Protagonisten.

Probenfoto von "Scheinleben"

Festwochen / Marcell Rév

Projektionen und Videoscreens: Mundruczó verbindet Theater und Film

Begeisterung und Beklemmung

Bei der Premiere zeigte sich das Publikum im Wiener Museumsquartier jedenfalls begeistert. Der langanhaltende Applaus galt sowohl der beachtlichen darstellerischen Leistung des ungarischen Quintettes vom Proton Theater, als auch der hervorragenden Arbeit der künstlerischen Leitung. Die Biografien, in die man hier in zwei Stunden Eingang fand, ließen einen dennoch beklommen zurück. Es müsste doch möglich sein, dass jeder leben kann als der, der er ist, in einer solidarischen, menschlicheren Gesellschaft. In Ungarn - und überall anders auch.

Lilian Spatz, ORF.at

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