Oper „ohne Titel“, ohne Text und ohne Botschaft
Fritsch hat sich als Theateranarchist einen Namen gemacht. So inszenierte er neben Klassikern wie Shakespeare, Brecht und Dürrenmatt auch das Einwortstück „murmel murmel“ von Dieter Roth, in welchem die Schauspieler während der gesamten Aufführung nur das titelgebende Wort sagen, schreien, wiedergeben. Das dazugehörige Buch mit stolzen 176 Seiten hat Verfasser Roth im Eigenverlag herausgebracht. In seinem Operncomic verzichtet Fritsch nun gänzlich auf eine verständliche Sprache.
Das Multitalent ist Schauspieler, Regisseur, Fotograf, Performer sowie Medienkünstler und einer, der es gern anders macht. Seinen ursprünglichen Berufswunsch Pfarrer hat der streng katholisch Erzogene nicht umgesetzt. Mit dem Projekt „Apokalypse“ bewies Fritsch 2010 jedoch seine Bibelfestigkeit. Dabei ließ der Regisseur Kinder Bibeltextauszüge sprechen und gestaltete daraus einen Kurzfilm. Mit welcher Intensität mancher Dreikäsehoch die Passagen in die Kamera spricht, ist ebenso beeindruckend, wie es irritierend ist, den Text aus Kindermund zu hören.
Cha-Cha-Cha und Soundcollagen
In seiner jüngsten Inszenierung agiert Fritsch nicht nur als Autor und Regisseur, sondern auch als Bühnenbildner. Wenngleich ihm Letzteres bei der Gestaltung des nahezu einzigen Requisits, einem riesenhaften hölzern anmutenden Sofa, ein bisschen entglitten ist, wie er im Ö1-Interview erzählt: „Da habe ich für die Werkstatt falsche Maße angegeben, darum wurde es so riesig. Es hat sich aber herausgestellt, dass es so genau richtig ist!“ Dem Ungetüm wird auch gleich zu Beginn der Vorstellung von den Darstellern gehuldigt. Und am Ende sorgen die Akteure dafür, dass es seinen eigenen Applaus erhält.

Thomas Aurin
Hier bekommen viele Gattungen ihr Fett weg: von der Oper über das Kino bis zur schmuddeligen Revue
Eine Oper im herkömmlichen Sinn wurde am Premierenabend am Dienstag nicht geboten. Die Aufführung verzichtet auf einen durchkomponierten musikalischen Bogen, auf Libretto und Geschichte. Dafür sind Cha-Cha-Cha, Filmmusik, vielerlei knarzende, ächzende Geräusche und Soundcollagen zu hören, deren Ursprung immer wieder wechselt. Das vor der Bühne platzierte Herbert-Fritsch-Opernorchester unter der Leitung von Ingo Günther jubelt Musik und Geräusche mal den Schauspielern, mal dem Sofa unter.
Musik mit Trillerpfeife und Karton
Schon zu Beginn machen alle Akteure mit dem ersten gemeinsamen Musikstück beim Publikum klar Schiff: Neben gängigen Instrumenten wie Klavier, Percussion und Blockflöten kommen Trillerpfeifen, ein zerknülltes knisterndes Papier sowie ein Karton zu musikalischen Ehren. Dirigent Günther, der um Aufmerksamkeit und Konzentration bemüht ist, wartet, bis absolute Stille herrscht, um den Einsatz zu geben. Mit heiliger Übertreibung wird der sich allzu ernst nehmende Opern- und Konzertbetrieb auf die Schaufel genommen.
Hinweis
„Ohne Titel“ ist bei den Festwochen noch am 17., 18. und 19. Juni jeweils um 19.30 Uhr im Burgtheater zu sehen. Am 17. Juni findet nach der Vorstellung ein Publikumsgespräch statt.
Neben einer perfekt dilettantisch vorgeführten Zaubertrickshow darf ein Darsteller in einem Soloauftritt nach Herzenslust furzen. Während der Furzorgie schwillt die dazu passende temporeiche Geräuschkulisse an und peitscht den sich in Blähungen Windenden über die Bühne. Das Ende der Szene wird von einem kurzen leisen Moment eingeläutet, den eine Stimme aus dem Publikum für die Frage nutzt: „Können wir auch noch etwas anderes sehen?“
Die große Verarsche
Neben dem ungeduldigen Rufer lobte das Premierenpublikum das Gesehene immer wieder spontan mit Szenenapplaus und viel Gelächter. Von der Oper, Revue, Film, Zirkus bis zu Ballett und Theater bekommen alle Gattungen ihr Fett weg. Die stark geschminkten Bühnenfiguren, in schillernden Glamouroutfits und mit skurrilen Plastikfrisuren agieren in theatral übertriebener Gestik und Mimik. Durch Echo gedoppelte Gesangseinlagen oder Arien, die kurz in Hundegeheul abdriften, brechen die Bühnenerwartungen. Das Hohelied auf die wunderbare Nutzlosigkeit der Kunst liefert gleichzeitig ihre Existenzberechtigung.

Thomas Aurin
Reminiszenzen an einst gern gesehene Revuenummern sind unverkennbar
Amüsant ist auch die Szene, in der sich alle Figuren in unterschiedlichsten Dialekten und Bühnensprachen in die Haare geraten. Unter den gehörten Sprachfetzen ist lautmalerisch eindeutig das grantelnde Wienerische zu erkennen, das dem hehren Burgtheater-Sprech oder dem Deutsch der Deutschen mit wunderbar unverständlichem Kauderwelsch dazwischenfährt. Die Annahme, dass der Regisseur in dieser sich zu einer Schimpftirade auswachsenden Situation humorvoll die Postaufführungsdebatte vorwegnimmt, liegt nicht so fern.
Wie Spielzeuge werden die zwölf Sänger und Tänzer in Fritschs Inszenierung von Günther im Orchestergraben händisch aufgezogen. Puppenhaft wanken und schwanken sie synchron auf ihren jeweiligen Standorten, bevor es in die nächste surreale Runde weitergeht. Höchste Konzentration im Saal ist spürbar, wenn die israelische Sopranistin und Schauspielerin Ruth Rosenfeld im Scheinwerferkegel einen Schlangentanz mit sich und ihrer Zunge vollführt: eine tonlose Königin der Nacht, stimmschonend ohne Koloraturen.
Ernste Fragen zum Musiktheaterbetrieb
Das Stück wirft trotz Komik und vermeintlichen Chaos ernste Fragen zum zeitgenössischen Musiktheaterbetrieb auf: Braucht es ein Libretto, wenn man als Zuschauer ohnehin den gesungenen Text nicht versteht? Wie kann man große Gefühle darstellen? Woher kommen die übertriebenen Gesten der Sänger? Denn innere Zerrissenheit einer Bühnenfigur lässt sich im hintersten Rang durch Augenrollen allein nicht vermitteln. Zu verstehen sind während der Vorstellung nur einzelne Wörter, weil der Text in nahezu unkenntlicher Sprache gesprochen wird. Doch vieles lässt sich spüren und erahnen.

Thomas Aurin
Das Glamourpaar darf auf der Bühne rauchen
Wenn in einem Szenenarrangement ein rauchender Filmstarverschnitt in unverständlichem amerikanischen Slang seiner kurvenreichen Partnerin die Welt erklärt, erkennt man das auch, ohne ein Wort von dem Gebrabbel zu verstehen. Fritsch hat selbst, wie er sagt, „keine Message“, die er dem Publikum vermitteln will. Im Gegenteil, er möchte es verwirren und durcheinanderbringen.
Oper „Ohne Titel. Nummer 1“
Herbert Fritschs Oper „Ohne Titel. Nummer 1“ ist bis Freitag am Wiener Burgtheater zu sehen.
Fortsetzung folgt
Der Regisseur tritt beim Schlussapplaus mit einem wahrhaft selten gesehenen Kopfschmuck auf die Bühne: einem Brettl vor dem Kopf. Wer oder was genau damit gemeint ist oder sich angesprochen fühlen soll, bleibt offen. Fortsetzung folgt, spätestens Ende des Jahres, wenn Fritsch an der Burg Molieres „Der eingebildete Kranke“ in Szene setzen wird.
Carola Leitner, ORF.at