Zimmerschlacht im Schneegestöber
„John Gabriel Borkman“ stammt aus dem Jahr 1896 und war bis vor einigen Jahren eines der weniger gespielten Stücke Henrik Ibsens. Seit einigen Jahren ist das anders: Die Finanzkrise hat die Geschichte des korrupten Bankiers zu einer aktuellen Erzählung werden lassen. Dabei ist die wirtschaftliche Pleite zwar das Metathema, nicht aber der eigentliche Kern des Stücks - das arbeitet Stone für seine Inszenierung ziemlich deutlich heraus. Was andere gern als düstere Erzählung zeigen, deutet der Regisseur in seiner Neufassung im dauerbeschneiten Bühnenbild überzeichnet grotesk. Die Tragik verliert das Stück dadurch nicht - eher im Gegenteil, wie sich am Ende weisen wird.

Reinhard Werner/Burgtheater
Birgit Minichmayr und Caroline Peters als unglückliche Zwillingsschwestern
Bei der Festwochen-Premiere im Akademietheater kam das sehr gut an. Dass sich trotzdem Buhrufe in den minutenlangen Jubel mischten, ließ den 31-jährigen Regisseur beim Verbeugen lachen: Damit hat er offenbar gerechnet. Weil natürlich mag es nicht jedermanns Sache sein, wenn sich die Ibsen-Figuren minutenlang zeitlich neu verorten, in dem sie über Therapiesitzungen via Skype, Freundschaftsverhältnisse auf Facebook oder den Mann mit dem Lieferwagen, der das Internet „überall hinschwebend“ hergebracht hat, unterhalten. Und vor allem, das schien so manchen im Publikum aufzuregen, dass eine Versammlung tragischer Figuren mit solcher Komik auf die Bühne gebracht wird.
Besetzung als „Glücksfall“
Bei Stone funktioniert das aber trotzdem. Das liegt nicht nur daran, dass er in seiner Textfassung die Tragik gekonnt überhöht und eine Zimmerschlacht erinnernd an Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ eindampft, sondern auch daran, dass er ein wirklich ausgezeichnet harmonisierendes Ensemble mit Talent zur Überhöhung zur Verfügung hat. Wie Schauspielchef Stefan Schmidtke im ORF.at-Gespräch zu Festwochen-Beginn sagte: „Es gibt Konstellationen, die sind ein Glücksfall, da kann man nicht warten.“ Als solchen kann man die Besetzung - Martin Wuttke als Ex-Banker Borkman, Birgit Minichmayr als seine Frau Gunhild und Caroline Peters als deren Schwester Ella - jedenfalls bezeichnen.

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Borkman (Martin Wuttke) haust auf dem Dachboden
Der korrupte Borkman wollte einst mit veruntreuten Geldern seiner Anleger die Wirtschaftsmacht an sich reißen. Wofür er Ella, die Frau, die er liebte, an seinen Betrugspartner verscherbelte. Weil Ella nicht mitspielte, flog Borkman (der in der Zwischenzeit die Zwillingsschwester der Verratenen geheiratet hatte) auf und wanderte öffentlich gedemütigt für fünf Jahre ins Gefängnis. Nach seiner Entlassung zog er sich jahrelang auf den Dachboden zurück, um von dort aus neue größenwahnsinnige Pläne zu schmieden.
Wenn festgefahrene Muster eskalieren
Das Schauspiel setzt genau hier ein: Acht Jahre nach der Freilassung lebt Gunhild, im Dauersuff und besessen von ihrem Sohn Erhart (Max Rothbart), einen Stock unter ihrem Mann - ohne jeden Kontakt zu ihm. Als dann Ella nach Jahren der Abwesenheit zu Besuch kommt und todkrank Ansprüche auf den mittlerweile erwachsenen Erhart stellt, eskaliert die schockgefrostet-festgefahrene Familienexistenz.
Dann geht es ziemlich zur Sache, wenn es sich letztlich um die individuelle Definition von „Leben“ dreht, um Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse. Borkman ergeht sich in freiwilliger Dachbodengefangenschaft in kruden selbstherrlichen Theorien und lässt niemanden außer Freund Wilhelm (Roland Koch) und dessen Tochter Frida (Liliane Amuath) an sich heran. Gunhild wütet in der Opferrolle und klammert sich mit Verzweiflung an ihren Sohn, der sich wiederum mit Hilfe seiner Freundin Fanny (Nicola Kirsch) aus dem elterlichen Gefängnis lösen will. Und Ella versucht, vor ihrem Tod einige Dinge klarzustellen.

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Dauerschneefall im Hause Borkman
Leise rieselt der Schnee
Die symbolische Kälte bleibt bei den grotesk-hitzigen Diskussionen dem Bühnenbild überlassen. Das stammt von Katrin Brack, deren eindrucksvolle und mehrfach preisgekrönte Arbeiten sich meist dadurch auszeichnen, dass sie aus einer leeren Bühne bestehen, auf die durchgehend etwas herunterrieselt. Sei es grüner Papierschnippselregen bei Peter Handkes „Immer noch Sturm“, Dauerregen oder herunterfallender Schaum bei anderen Inszenierungen oder, wie bei Luk Percevals „Moliere“-Projekt (Salzburg 2007) und jetzt eben bei „Borkman“, dauerrieselnder Schnee.
Hinweis
„John Gabriel Borkman“ ist bei den Festwochen noch am 30. und 31. Mai, sowie am 1., 4., 6., 7., 8., 13., 14., 18. und 20. Juni jeweils um 19.30 Uhr im Akademietheater zu sehen. Am 30. Mai findet im Anschluss an die Vorstellung ein Publikumsgespräch statt.
Das ist in dem Fall auch naheliegend: Bei Ibsen erfriert Borkman letzten Endes im Schnee, symbolisch für die „Herzenskälte“, wie Gunhild im Originaltext feststellen wird. Bei Stone muss nicht ausgesprochen werden, was durch das Schneegestöber ohnehin den zweistündigen Abend über immanent ist. Figuren treten nicht auf und ab. Sie graben sich vielmehr aus und ein, aus tiefen Schneehaufen auf offener Bühne, aus der Gefangenschaft im eigenen Schicksal, in das sie sich selbst und gegenseitig dauerzwingen.
Wie man leben könnte
„Ich will glücklich sein. Und leben. Mein Leben leben,“ wird Erhart bei Stone sagen, bevor er den Ausbruch aus der Familie wagt. Und dann flackert auch bei den anderen die Idee des Loslassens auf. Dass Wuttkes Borkman dann schließlich selbst als Toter noch per Victory-Geste ins Publikum grüßt, darf möglicherweise so gedeutet werden, dass - auch wenn die Schwestern-Eintracht wiederhergestellt scheint - ein Happy End doch anders aussieht.
Sophia Felbermair, ORF.at