Handke darf ein Rätsel bleiben
„Die Bühne ist ein freier Platz im hellen Licht. Es beginnt damit, daß einer schnell über ihn wegläuft.“ So lautet die zu Beginn des Stückes von einem Countertenor im Publikum gesungene Spielanweisung Handkes. Von Helligkeit keine Spur: In graue Mäntel gehüllte Menschen eilen auf einer grauen Bühne gehetzt aneinander vorbei. Jung, alt, arm, reich, schön und hässlich. Manche haben ein Geheimnis, andere laufen vor etwas davon, einige sind verloren.
Aber so genau weiß man es nicht, denn das Spiel kommt ohne das gesprochene Wort aus. In der zwei Stunden und 30 Minuten dauernden Inszenierung von Tiit Ojasoo und Ene Liis Semper wird im Schnelldurchlauf gelebt, geschrien, gelacht, geweint, geliebt, gehasst. Das estnische Regieduo, das seit zehn Jahren gemeinsam arbeitet, war bei den Wiener Festwochen bereits mit den Produktionen „Heiße estnische Männer“ und „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ erfolgreich vertreten.
Wortlos, aber nicht geräuschlos
1992 feierte „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ bei den Wiener Festwochen ebenfalls im Theater an der Wien unter Claus Peymann seine Uraufführung. Im Original lässt Handke an die 400 Figuren in seinem Stück auftreten und schafft ein menschliches Beziehungsgeflecht, in dem sich die Akteure auf der Bühne verstricken. Noch zu Beginn ist viel von Handke zu spüren, den die beiden Regisseure um Erlaubnis gebeten haben, sich dem Schauspiel auf ihre Weise zu nähern und es zu bearbeiten. Zusehends aber nimmt das Bühnengeschehen an Fahrt auf. Handkes Handschrift verblasst.

Festwochen/Armin Smailovic
Der überraschend stumme Schrei ist umso stärker, weil unhörbar
Immer schneller dreht sich der Reigen, und atemlos versucht so mancher Zuschauer, dem komplexen Gezeigten zu folgen. In tausend kleine und große Gesten zerhackt, folgen durcheinandergewürfelte Situationen, Handlungsfetzen wie erkennbare Szenen. Es tun sich Abgründe auf, es wird Liebe gefunden und verloren, geheiratet, Weihnachten gefeiert, mehrfach Sex gehabt. Es wird hingeschaut und weggeschaut. Die Darsteller rennen, stolpern, wanken durch ihr Bühnenleben und wechseln beständig Kleidung, Mimik, Gestik, Figuren und Gangart.
Glanz und Elend
Während die dekadente Gesellschaft sich amüsiert, wird dezent im Hintergrund gelitten. Erst als die Situation eskaliert und einer der Anzugträger fällt, ist das erotische Gelage zu Ende, und die Partygäste wenden sich ab. An der auf dem Boden liegenden Figur hat man kein Interesse. Ihr Leiden gerät gar zum Klamauk, als ein ungeschickter Sanitäter ihr sprichwörtlich „mit dem Arsch ins Gesicht“ fährt.
Veranstaltungshinweis
Die Produktion „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ ist noch am 22. und 23. Mai im Theater an der Wien zu sehen. Am 22. Mai findet im Anschluss an die Vorstellung ein Publikumsgespräch statt.
Ojasoo und Semper packen viel in ihr Stück und überfrachten es dabei. Sie hetzen ihre 20 Darsteller über die Bühne, dass einem Hören und Sehen vergeht. Es ist zu schnell und ein Zuviel. Während so mancher Besucher noch darüber grübelt, wie eine Szene zu verstehen ist, hat die nächste längst begonnen. Der Spiegel, den man dem Publikum vorhalten wollte, weist viele blinde Flecken auf.
Nicht die feine Klinge
Während zum Teil mit dem Holzhammer Kritik am System geübt wird, verkommt das „Maurerdekollete“, das ein männlicher Radfahrer den hinter ihm sitzenden verschleierten Frauen wie selbstverständlich entgegenstreckt, zum Lacher im Publikum. Es heißt, das Stück werde im Kopf eines jedes Einzelnen erst zu einem Ganzen. Wie wichtig dieses Detail für das Gesamtbild ist, bleibt ein Rätsel.
Die Leistung der Darsteller ist überdies beachtlich, wenngleich das von der Regie Geforderte und Gezeigte mehr an einen schauspielerischen Übungsdurchlauf erinnert. Die aufgeschürften, fast blutigen Knie einer Schauspielerin im roten Kleid sind jedoch echt. Das Ensemble hat vor wie hinter der Bühne keine Zeit zum Verschnaufen, denn dahinter warten bei jedem Abgang bereits mehrere Ankleider, die beim Wechseln von Kostüm und Maske helfen.
Was hat man verpasst?
Politisch durchdrungene Sequenzen sind leichter zuzuordnen. Was bei dem vorüberziehenden Schiff mit zwei bunt gekleideten Menschen schwarzer Hautfarbe, gemeint ist, ist deutlich. Unmerklich mischt sich ein Guantanamo-Häftling, geführt von zwei schwarz besturmhaubten Männern, unter das steinalte Bühnenvolk. Der Stock einer Dame im Pelz gerät dabei zum Ticken einer Uhr. Die Überalterung der westlichen Gesellschaft, Flüchtlingsdramen, der Gazastreifen, das Erstarken Chinas und die Krise des Christentums sind nur einige der angerissenen Themen.

Festwochen/Armin Smailovic
Schräger Bilderreigen mit Nikolaus
Als ein Mann auf einem Regiestuhl Platz nimmt und Menschen wie Vieh bewertet und aussortiert, ist man unweigerlich an eine Castingshow des Grauens erinnert. Die Vorgeführten sind alt und hässlich, Gestrandete, nervlich zerrüttete Randfiguren, die ohne jeden Halt einem Ende entgegentaumeln. Als dieses Intermezzo endlich vorüber ist, verwundert es nicht, dass der vorher junge Mann im Regiestuhl nun sichtlich gealtert ist und gramgebeugt abgeht.
Rätselraten um die Botschaft
Das Figurenkabinett, bestehend aus Büroangestellten, Straßenkehrern, Postboten, Läufern, Touristen, einem bespuckten Bettler, Verliebten und Obdachlosen, treibt rast- und ruhelos in einer Welt aus unterschiedlichen Kulturen, unterschiedlichen Hautfarben und Religionen. Der Nikolaus gibt seinen Segen, während der Krampus nur beim Rollstuhlfahrer die Rute verschämt stecken lässt. Moses rutscht auf Knien mit seiner Zehn-Gebote-Tafel im Arm vorüber, und wenig später hat Abraham mit seinem Sohn Isaak seinen Auftritt. Nur: Wo versteckt sich hier die Botschaft?
Rätsel über Rätsel. Der Zuschauer darf, soll und muss investieren in ein Stück, das viel zeigt, aber nichts erklärt. Die Schauspieler geben ihr Bestes – das zugegeben großartig ist –, dennoch geht viel verloren. Auge und Verstand können nicht überall sein. Das Schauspiel vervollständige sich in den Köpfen der Besucher, heißt es. Die teilweise starken Bilder mögen Mosaiksteinchen aus einem vielleicht großen Ganzen sein, nur erschließt sich dieses in seiner politischen und gesellschaftlichen Relevanz nur schwer.

Festwochen/Armin Smailovic
Wenn schon nicht das Schauspiel selbst, so überzeugt doch die schauspielerische Leistung
Was fehlt, ist der Gong, der, dem Ringkampf ähnlich, die nächste Szene einläutet. Auch Nummerngirls, die, statt die nächste Runde anzukündigen, kurze Zusammenfassungen der eben gesehenen Szenen auf ihren Tafeln zur Erklärung hochhalten. Ein wenig mehr Aufklärung und weniger Rätselraten hätte dem Abend gutgetan, der, je länger er dauert, zu einer pantomimischen Tagesschau mit Slapstick-Einlagen verkommt.
Musikalisch stark, aber ...
Die Musik von Lars Wittershagen begleitet das Ensemble gekonnt und unterstreicht das Geschehen ton- und geräuschgewaltig. Der Chor, effektvoll als Besucher in Parkett und Rang platziert, sorgt im Finale für Emotion. Nachdem die Schauspieler im Adams- bzw. Evakostüm aufgetreten sind, bleibt nur einer von ihnen zurück und bewegt sich quälend langsam über die Bühne.
Der Zuschauerraum wird heller, die Sänger erheben sich nacheinander von ihren Plätzen. Wäre der Gesang nicht so schön, würde ein Raunen durch die Reihen gehen. Der Fokus liegt auf den im Saal verteilten Chorsängern, dass sich einer immer noch langsam, kaum erkennbar über die im Dunkeln liegende Bühne schiebt, ist vergessen. Ob auch hier eine versteckte Botschaft auf Entschlüsselung wartet, ist durchaus möglich. Nur fehlt das Nummerngirl ...
Carola Leitner, ORF.at