„Es ist nicht wichtig, ob Herr X zwitschert“
Wien ist für Hinterhäuser ein besonderer Ort der Produktion. Nirgendwo gebe es parallel ein derart großes heterogenes Kulturangebot - und ein Publikum, das auch heikleren Fragen extrem aufgeschlossen gegenübertrete.
ORF.at: Herr Hinterhäuser, welche Erfahrungen nehmen Sie aus dem ersten Jahr Festwochen in die heurige Spielzeit mit? Und was konnte man aus dem ersten Jahr lernen?
Hinterhäuser: Die Erfahrung des letzten Jahres ist eine schöne Erfahrung, die mich als Intendant sehr glücklich gemacht hat. Man kann hier in Wien sehr anspruchsvoll sein, sehr wesentliche Fragen stellen. Und es gibt eine bemerkenswerte Aufgeschlossenheit beim Publikum. Gerade das sehe ich jetzt nach den ersten Gesprächen seit der Präsentationspressekonferenz wieder.
ORF.at: Haben Sie so etwas wie eine Zuschauerbiografie, mit der Sie in Wien arbeiten können?
Hinterhäuser: Es gibt neben Wien wenige Städte auf der Welt, die ein ähnlich heterogenes wie breites Kulturprogramm versammeln. Und in Wien wird tatsächlich die Vielfalt, das Nebeneinander von so vielen kulturellen Produktionen gelebt. Wien ist da schon auch besonders, in dem kulturellen Willen, der in dieser Stadt wirkt.
ORF.at: Ist es hier dann schwerer, ein Festival zu programmieren?
Hinterhäuser (lacht): Ganz leicht macht es das nicht, denn es wäre ein ganz großer Fehler, mit bestimmten Institutionen in Konkurrenz zu treten. Man kann sich hier nicht auf Dubletten verständigen. Trotzdem: Festivals funktionieren nach ganz eigenen Gesetzen. So etwas wie „Orfeo ed Euridice“ (die Inszenierung von Romeo Castellucci mit einer Wachkoma-Patientin, Anm.) kann man nur auf einem Festival zeigen, das passt in kein Repertoire. Und das ist das Schöne und Interessante daran.
ORF.at: Ist die Kürze eines Festivals dann auch die Chance, Dinge mehr zuzuspitzen?
Hinterhäuser: Bestimmt. Aber mit fünf Wochen spielen wir auch eine ganz schön lange Zeit. Ich denke, es ist so: Wien veranstaltet die Festwochen als Festival der Stadt für die Wiener. Es ist ja hauptsächlich ein Publikum von hier, das man anspricht und das man mit der Zeit kennt, auch persönlich kennt, das ist etwas ganz Besonderes - und das macht einen Unterschied zur Arbeit für ein Festival, wo man sein Publikum nur in Spurenelementen kennt.
ORF.at: Apropos bekannt: Wie wichtig ist die Öffnung des Festivals? Sie haben ja im letzten Jahr begonnen, das Künstlerhaus als Begegnungsstätte zu etablieren.
Hinterhäuser: Ja, das ist sehr wichtig und eigentlich für mich der Erfolg des letzten Jahres, das Künstlerhaus als Stätte der Begegnung gefunden zu haben. Die Stadt mit ihren vielen Produktionsorten ist so groß, dass es ohnedies schwerfällt, so etwas wie ein Zentrum des Festivals zu finden. Und das ist gelungen. Heuer ist das Künstlerhaus zudem ein Spielort, es wird aufgewertet, und wir hoffen hier auf noch dichtere Begegnungen. Und ich hoffe, dass auch das Künstlerhaus in seinem Schattendasein durch die Festwochen aufgewertet wird.
ORF.at: Auffällig ist beim Schauspielprogramm, dass sich sehr viele Stücke mit politischen Themen oder sagen wir mit dem Archetypischen des Politischen auseinandersetzen. Kommt der Kunst gerade im Rahmen eines Festivals die Rolle zu, Fragen, die unsere Gesellschaft betreffen, radikaler und unbequemer zu stellen?
Hinterhäuser: Ich glaube, unbequeme Fragen zu stellen, ist ja niemandem verwehrt. Es ist die Frage, was man will. Ein Festival ist nunmal eine merkwürdige Zusammenkunft von Menschen. Da, wo Menschen zusammenkommen, da stellen sich bestimmte Fragen - etwa, wenn man Kunst macht, aus welcher Epoche ein Stück ist. Es geht um eine Untersuchung, und ein Festival kann das in einer starken zeitlichen Raffung leisten. Es geht um eine Befragung, und ein Festival kann das dezidierter und auch freier als eine Institution. Festivals haben da so etwas Schönes und auch Melancholisches, was so eine Art Temperaturerhöhung bringt. Und das bringt eine Erhöhung der Konzentrationsmöglichkeit.
ORF.at: Deutlich zugenommen hat bei Ihnen wieder das Musiktheater. Empfiehlt sich die Oper als verdichtete Kunstform gerade für die Gegenwart und das digitale Zeitalter, das ja auch alles stark verdichtet und auf einmal zur Wirkung bringen mag?
Hinterhäuser: Das würde ich so im Moment nicht unterschreiben, so das überhaupt eine Frage war. Wenn wir über das Spezifikum Oper bei den Wiener Festwochen sprechen, dann sind wir bei der Oper nicht abhängig von Premierreizen: Stimme, Regisseur, Dirigent. Hier können wir Fragen stellen. Es geht nicht darum, ob Herr X zwitschert oder Frau Y. Es ist eine vollkommen andere Weckung der Neugier, die in einem größeren Zusammenhang stattfindet, dass was Neues, Frisches stattfindet.
ORF.at: Neu und frisch, wenn man so will, ist ja auch der jährliche Wechsel in der Schauspielintendanz. Erfrischt das mehr? Oder macht es Planung auch auf lange Sicht schwerer?
Hinterhäuser: Das ist schon anstrengend, dieser ständige Wechsel - und es ist auch kostspieliger. Ich habe bzw. hatte da drei sehr verschiedene Persönlichkeiten am Start, die ich alle wollte, auch wenn der Abschied im Vorjahr dann negativ ausfiel (Abschied von Schauspielchefin Frie Leysen mit einem öffentlichen Abrechnungsbrief, Anm.). Die Wechsel erzwingen auf der Seite des Intendanten auch, die Unsicherheiten und Labilitäten, die entstehen können, in guten Bahnen zu halten. Grundsätzlich kann ich dem etwas abgewinnen. Wahrscheinlich sitzen wir alle zu lange auf unseren Posten herum (lacht). Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen, ist das jetzt eine Erfahrung, die ich aus dem ersten Jahr mitnehme.
Das Interview führten Sophia Felbermair und Gerald Heidegger, ORF.at
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