Szenenbild aus Gaiggs 2ndnature

Raphael Brand

Die zweite sexuelle Befreiung

Sex war noch nie so frei und zugleich so vielen Disziplinierungspraktiken unterworfen wie in der Gegenwart. Bedarf es also einer neuen Befreiung der Sexualität? Auf diese Grundfrage ließe sich die Performance der österreichischen Choreografin Christine Gaigg gemeinsam mit drei Tänzern am Montagabend beim ImPulsTanz-Festival zusammenfassen. Deutlich wurde: Der autobiografische Anspruch auf die „eigene“ Sexualität entkommt nicht einer politischen Debatte über den Körper.

Wie lassen sich Verlangen und Begehren formulieren, ohne dabei gleich in einer Auseinandersetzung zwischen Spät-68er Kultur und Political Correctness zu stranden? „Maybe the way you made love twenty years ago is the answer?“, nennt Gaigg ihr Projekt und nähert sich der Debatte zum überreglementierten Sex aus einer heiklen Perspektive. Vom autobiografischen Ich zieht sie in den breiteren politischen Diskurs, inszeniert die intime Tagebuchlektüre als eine Art Seminarsituation vor Publikum - und zwingt zwei Tänzerinnen (Adriana Cubides, Anna Prokopova) und einen Tänzer (Petr Ochvat) neben sich in eine Art Mimikri zu dem auf der Bühne theoretisch wie zugleich sehr intim Verhandelten.

Vorstellung kontra Darstellung

Viel, sehr viel wird im Rahmen einer Stunde im Wiener Odeon verdichtet, nicht nur weil hier Medien und Methoden der Anschauung gegeneinander ausgespielt werden. Eine Frau appelliert an die Vorstellungskraft und das Abstraktionsvermögen des Publikums, hat dabei scheinbar immer sehr persönliche Erfahrungen zur eigenen Sexualität zum Thema. Zugleich widmen sich zwei Frauen und ein Mann auf der Bühne neben ihr den Fragen von Freiheit und Zwang im sexuellen Umgang miteinander - und sind doch möglicherweise Spielball der daneben sitzenden Choreografin.

Szenenbild zu 2nd nature

Kat Reynolds

Ein Abend zwischen Abstraktion und Voyeurismus: Nicht immer haben es die Tänzerinnen und der Tänzer leicht, neben dem gelesenen Diskurs zu bestehen

Im Idealfall geht es um Anschaulichkeit zu einem Thema. Aber da die Konstruktion so überfrachtet ist, zwischen dem Anspruch auf Eigentlichkeit und der Fähigkeit zu abstrahieren, weil man hier als Publikum zwischen Reflexion und Voyeurismus auch zu viele Rollenangebote zur Verfügung hat, darf man im Rahmen einer Stunde in einem Meer der Fragestellungen stranden. Dabei hat hier jemand zum Thema Sex doch eigentlich nur sehr deutlich „Ich“ gesagt. Und dem Publikum eines signalisiert: Es gab in „meiner“ Biografie immer die Möglichkeit, Nein zu sagen.

Tantra-Eck oder Theorieseminar?

Wenn auf der Bühne für die Gegenwart eine Übersexualisierung der Gesellschaft und zugleich auch durch Ethik und Political Correctness eine neue Grenzübertretung zwischen Intimraum und Gesellschaft konstatiert werden, so spiegelt sich das ja auch auf der Metaebene wider. Wer von Sex und Transzendenz reden will, gehört mittlerweile entweder in die Eso-Ecke und ins Tantraseminar oder hat nicht aufgepasst im Seminar über Biopolitik. Dass im Zwischenraum ein paar vielleicht wesentliche Fragen herumliegen, macht dieser Abend in kurzen Momenten deutlich.

Die Chance, im Rahmen einer Kunstperformance den Übertheoretisierungen des Körpers zu entkommen, bleibt an diesem Abend ungenutzt. Es ist nämlich ausgerechnet die Tanzperformance, die in die Theoriefalle tappt. Sie ist, bei aller Ausdrucksstärke, immer zu nah am Thema des gelesenen Diskurses. Im ersten Teil verheddern sich alle in der Behauptung von Begehren, das eben nicht mittels körperlicher Annäherung, sondern nur über ein ins Mikrofon gestoßenes Stöhnen artikuliert wird. Als im Finale zur zweiten sexuellen Befreiung geschritten wird, bleibt die Erkenntnis: Manchmal fliegen die Signifikanten einfach nicht davon, wenn Sex auf der Bühne, gut gemeint, repräsentiert werden muss.

Gerald Heidegger, ORF.at

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