Szene aus "tauberbach"

Die Königin der Müllhalde

Die Bretter, die die Welt bedeuten - zugemüllt mit Kleiderhaufen und von seltsamen Gestalten bevölkert: Der belgische Choreograf Alain Platel hat mit „tauberbach“ im Volkstheater das ImPulsTanz-Festival offiziell eröffnet. Er stellt mit der brasilianischen Müllsammlerin Estamira eine gesellschaftliche Randfigur in den Fokus und macht sich auf die Suche nach der Ästhetik im trostlosen Chaos.

Die Koproduktion der 2004 von Platel gegründeten Compagnie Les Ballets C de la B und den Münchner Kammerspielen zeigt, was es heißt, sich unter widrigsten Umständen die Würde zu bewahren. Dem Stück zugrunde liegt Marcus Prados Dokumentarfilm „Estamira“ über eine schizophrene Frau, die auf der Müllhalde von Jardim Gramacho in der Nähe von Rio de Janeiro lebt, überlebt und arbeitet. Weitere Inspirationsquelle war das Projekt „Tauber Bach“ des polnischen Videokünstlers Artur Zmijewski, der mit gehörlosen Jugendlichen eine Bach-Kantate aufgenommen hat. Film und Musik bilden den Rahmen, in dem Platel die Schauspielerin Elsie De Brauw (als Estamira) mit den fünf Tänzern schweißtreibend agieren lässt.

Szene aus "tauberbach"

Julian Röder / JU-OSTKREUZ

Estamira wandelt bereits etwas angeschlagen durch ihre Welt, während „ihre Stimmen“ rund um sie wild kopulieren

„Unzivilisiert sein ist hässlich!“

Estamira spricht, lacht, brabbelt, schimpft, schreit und streitet - mit sich und den sie umgebenden Kreaturen. Ihre Welt, die Müllhalde, ist ein großer bunter Kleiderhaufen, aus dem sich langsam die fünf Tänzer schälen und immer wieder darin abtauchen. Die „tanzenden Stimmen“ umgarnen und verfolgen sie, bis sie die Verwirrte schließlich überwältigen.

„Manche halten es hier nicht aus. Können sich nicht dran gewöhnen. Es ist giftig. Mir geht es gut. Ich mag es hier“, sagt Estamira. Sie zeigt, dass es an diesem Ort alles gibt, und zählt auf: Gemüse, Orangen, Fisch, Wein, Bier, Schnitzel … und beklagt die Tatsache, dass die Menschen, die Dinge nicht mehr achten. Die Königin der Müllhalde wehrt sich wacker gegen alle Angriffe und trotzt sogar der Stimme Gottes aus dem Off. An anderer Stelle sagt die schon von ihren „Stimmen“ zerrupfte Frau: „Unzivilisiert sein ist hässlich!“ Gemeint ist jedoch nicht sie selbst, sondern die anderen.

Veranstaltungshinweis

Alain Platels „tauberbach“ ist noch am 19. und 20. Juli jeweils um 21.00 Uhr im Volkstheater zu sehen.

Maximaler Einsatz im „Bastardtanz“

Allmählich nehmen die Kreaturen von Estamira Besitz. Ein Tänzer zieht sich ihr Kleid an, während sie nur noch in rosa BH und Strumpfhose auf den Kleiderbergen steht und kaum noch von den sie verfolgenden Stimmen zu unterscheiden ist. Sie tanzt mit vier der Wesen eine kräfteraubende synchrone Choreografie, während sich ihr Kleid an einer anderen Person ohne sie weiterdreht.

Regisseur Platel verlangt von allen Akteuren auf der Bühne maximalen Einsatz. Zu dem von ihm als „Bastardtanz“ bezeichneten Bewegungen, erklingen kakofone Gesänge, seltsame Laute, Schreie, Worte, Fragen, Lachen - und im Hintergrund wird wieder Bach in der Interpretation einer Gruppe von Gehörlosen eingespielt. Wenngleich so auch nicht jedes Stück gleich eingangs erkennbar ist, erzielt die Musik trotz bzw. wegen der falschen Töne Gänsehauteffekt - die Menschlichkeit des vom Leben schwer gezeichnete Komponisten wird erlebbar.

Starke Bewegungsorgie

Beeindruckend ist die Leistung De Brauws, die unter anderem einen langen Monolog in Kunstsprache vorträgt und auch körperlich an die Grenzen geht. Die Compagnie Les Ballets C de la B liefert dazu eine tänzerisch virtuose und schauspielerisch wunderbare Performance ab. Verdient erhielt Ross McCormack nach einem langen Solo spontan Szenenapplaus.

Szene aus "tauberbach"

Julian Röder / JU-OSTKREUZ

Gemeinsam und doch jeder für sich: ein starkes Miteinander der belgischen Tanzformation Les Ballets C de la B

Die Tänzer wechseln ihre Rollen ebenso mühelos, wie sie ein neues Kleidungsstück über- oder abwerfen. Trotz der oft krampfartigen, spastischen Bewegungen kommt kein Moment des Peinlich-berührt-Seins auf. Platel schafft diesen gefährlichen Spagat, spielt mit den Klischeebildern, ausnahmsweise ohne verstörend zu sein. Der enthusiastische Schlussapplaus samt Bravo-Rufen zerreißt die stille Konzentration vor und auf der Bühne. Glücklich und verschwitzt ist man jedenfalls auf beiden Seiten. Noch gibt es Restkarten.

Carola Leitner, ORF.at

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