Filmstill aus "Geschwister"

Diagonale

Was es heißt, Flüchtling zu sein

Wenn es in Ordnung ist, für Flüchtlinge in Österreich verpflichtende Wertekurse einzuführen, dann müsste man im Gegenzug die Österreicher dazu zwingen dürfen, diesen Film zu sehen. „Geschwister“ ist ein Spielfilm und macht nachvollziehbar, was es heißt, Flüchtling zu sein - mehr als jede Doku.

In Moldawien waren die 18-jährige Bebe (Ada Condeescu) und ihr jüngerer Bruder Mikhail (er könnte 16 sein, Abdulkadir Tuncer) polizeilicher Willkür bis hin zur Folter ausgesetzt, Eltern gibt es nicht mehr. Allzu genau wird auf diese Vorgeschichte nicht eingegangen, nur einzelne Flashbacks und Aussagen vor dem Asylamt geben Hinweise über den Fluchtgrund. Bebe beschließt jedenfalls, dass es Zeit ist zu gehen.

Doch als Flüchtling ist man vogelfrei, vor allem während der Flucht. Zur Polizei kann man nicht gehen, vor der muss man sich ja verstecken - und genau das wissen diverse Mafia-Organisationen und einzelne Halsabschneider. Nicht zuletzt deshalb fordern zahlreiche NGOs und Experten sichere Fluchtkorridore. Jeder will diesen Menschen das Geld aus der Tasche ziehen, sogar der alte Mann, der sie erwischt, als sie in seiner Scheune übernachten. Und jeder, der sie ein paar Meter mitnimmt. Was die Mafia mit Bebe macht, sei an dieser Stelle nicht verraten - denn der Film ist nicht trocken belehrend, er hat einen flirrenden Spannungsbogen.

„Ich lasse euch hier sterben“

Eine der schmerzhaftesten Szenen des Films ist eine Schlepperfahrt. in Bildern, denen man nicht entkommt, wird nachvollziehbar, welche Platzangst man verspüren muss, wenn man im Boden eines Lkws versteckt wird, für viele Stunden. Das sind Stunden quälender Platzangst und Atemnot. Dann werden die beiden nicht gleich aus dem Versteck befreit. Bereits in Deutschland angelangt, heißt es: „Gebt mir das Geld, oder ich lasse euch hier sterben.“

Filmstill aus "Geschwister"

Diagonale

Die 18-jährige Bebe (Ada Condeescu) und ihr jüngerer Bruder Mikhail (Abdulkadir Tuncer)

Es ist ein Satz, der leicht geschrieben ist: Das Menschenleben eines Flüchtlings ist nichts wert. Wenn man diesen Film sieht, dann kann man nachfühlen, was dieser Satz bedeutet. Was es heißt, wenn eine Beamtin mit stechendem Blick nach Details der Fluchtgeschichte fragt und man sich, weil man sich nicht so genau erinnern kann, aber alles richtig machen möchte, in Widersprüche verheddert. Auch hier fordern NGOs längst eine Änderung der Verfahrensregeln.

Filmhinweis

„Geschwister“ läuft auf der Diagonale noch am Sonntag um 14.00 Uhr im UCI Annenhof.

„Ich bin glücklich“ - ein Mantra

Und dann die klitzekleinen Freuden, die einem im Asylland niemand vergönnen möchte. Eine Shoppingtour, bei der man ein paar billige Kleidungsstücke kauft. Und die Liebe? Sofort muss man befürchten, dass der Generalverdacht lautet: Die sucht sich ja nur einen, um eine Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. Und mittendrin sitzen die beiden im Deutschunterricht und sagen gemeinsam mit anderen Flüchtlingen als Übung im Chor: „Ich bin glücklich. Ich bin glücklich. Ich bin glücklich.“

Zwischendurch Hoffnungsschimmer. Bebe arbeitet illegal als Putzfrau, ein wenig Geld kommt herein. Eine Lehrerin in der Schule erkennt Mikhails Talent zum Zeichnen und empfiehlt ihm eine Bewerbung an der Kunstakademie. Aber Bebe dämpft die Erwartungen: „Wir sind Asylwerber, träum nicht zu viel.“ Als sie sieht, wie weh ihm der Satz tut, fügt sie mit wenig Überzeugung hinzu: „Wenn du hart arbeitest, werden sie dich respektieren.“

Gelungenes Filmdebüt

Der Film, finanziert unter anderem mit Mitteln aus dem Film/Fernsehabkommen des ORF, lebt nicht zuletzt von der Ausnahmeleistung der beiden jungen Schauspieler. Regie geführt hat Markus Mörth, Jahrgang 1973 und Absolvent der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) in München. Kaum vorstellbar, dass dieser Film, gedreht mit ungemeiner Akkuratesse, ohne jeden Durchhänger trotz einer Dauer von knapp zwei Stunden, Mörths erster Langfilm ist. Von ihm dürfte noch einiges zu erwarten sein.

Simon Hadler, ORF.at

Link: