Siegfried der Käfer als „Bugs Bunny“ der Oper
Das Rheingold, geschmiedet zu einem Ring, bewacht von den drei Rheintöchtern. Alberich, König des Zwergengeschlechts der Nibelungen, stiehlt den Ring, weil dieser seinem Besitzer grenzenlose Macht verleiht. So nimmt das Unheil bei Wagner wie in Bregenz seinen Lauf. In diesem Fall sind die Rheintöchter drei Quallen und Alberich ein schwarzer Käfer.
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„Der Ring in 90 Minuten“
In der Kürze liegt die Würze - das hat sich das niederländische Theaterkollektiv Hotel Modern gedacht. Und den 16-stündigen Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ in eine 90-Minuten-Version verwandelt.
Was dann in Bregenz folgt, ist nur sehr lose an die Geschichte aus Wagners 16-Stunden-Opus angelehnt. Käfer Fasolt erscheint und versucht, Alberich den Ring zu entreißen. Tarantel Wotan tötet beide und entfleucht mit dem Ring – daraufhin entbrennt in der Insektentwelt ein wütendes Ringen, Zerren, Rennen um die goldene Preziose. Teilweise erinnern die schnellen Bewegungen der Insekten mit Wagners Musik dazu an US-amerikanische Zeichentrick-Serien aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, wie Bugs Bunny und Co.
Auf Leben und Tod
Wer jetzt genau wen meuchelt ist bei dieser Aufführung ohnehin zweitrangig. Wichtig ist Hotel Modern die Natur: Sie spielt eine herausragende Rolle. In den Miniatur-Kulissen grünt und blüht es in allen Formen und Farben. Insekten kopulieren, Schmetterlinge schlüpfen, Raupen werden von Hornissen geköpft, Spinnen spannen ihre Netze auf, Maden bearbeiten eine tote Ratte, einen toten Vogel. Der ewige Kreislauf von Leben und Sterben, Werden und Vergehen. Der Natur ist egal, wer um Macht und Einfluss kämpft. Es wird gestorben und wieder geboren.
Gerade die „Grausamkeit“ der Welt der Insekten und der Umstand, dass sie Metamorphosen durchlaufen, also ihre Gestalt ändern können, hat Hotel Modern auf die Insekten-Idee gebracht. Denn schließlich sind Wagners Figuren auch hinterhältig, grausam, verschlagen – und können sich verwandeln, wie Alberich etwa in eine Schlange.

Hotel Modern
Weltenherrscher Wotan erscheint in Spinnengestalt
Winzig und doch riesig
Mistkäfer, Libellen, Gottesanbeterinnen, Schmetterlinge, Ameisen. Gemacht aus Blech, Draht, Gummi, Holz und Papier. Fünf Puppenspieler bewegen sie in insgesamt elf Mini-Bühnen – ausgeleuchtet mit zig umfunktionierten Tischlampen. Hotel Modern filmen ihr Spiel live und projizieren es riesengroß auf eine Leinwand: so wird der golden schimmernde Käfer-Siegfried größer als es ein realer Darsteller jemals sein könnte. Wie detailverliebt, ideenreich und akribisch die Modelle und Kulissen ausgeführt sind, ist ebenso beeindruckend, wie feinfühlig und perfekt aufeinander abgestimmt die Puppenspieler mit Ihnen agieren.
Der Schwebfliegen-Ritt
Zwei Schwebfliegen sind die Walküren. Grandios ihr Ritt zum berühmten Walkürenmotiv: sie bleiben an Ort und Stelle, hinter ihnen wird die Landschaft auf einem langen Band vorbei gezogen – wie in frühen Film-Produktionen. Genial witzig – ob das Richard Wagner auch so empfunden hätte, sei dahingestellt.
Gegen Schluss kämpft Käfer Siegfried mit einem Schmetterling um den goldenen Ring. Ein Vulkan bricht aus, der Ring fällt auf den Boden – und löst ein Erdbeben aus, dessen Lavaströme mit Gel und Gelatine effektvoll umgesetzt sind. Bereits für die Bayreuther Ring-Aufführung 1876 war ein Vulkanausbruch als Bühnenbild vorgesehen gewesen.
Hotel Modern: 1997 von Pauline Kalker und Arlène Hoornweg in Rotterdam gegründet. Verbindet bildende Kunst mit Puppenspiel, Musik, Film und darstellender Kunst. Herman Helle, zuständig für die Entwürfe und den Bau der Puppen, war lange als Musiker quer durch Europa unterwegs, hat unter anderem für den Architekten Rem Kohlhaas Modelle gebaut. Bekannt geworden sind Hotel Modern mit extrem gegensätzlichen Stücken: „Kamp“ über das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und „The Great War“ über den ersten Weltkrieg, sowie „Shrimp Tales“, in dem 350 getrocknete Garnelen die Rollen von Menschen übernehmen.
Ein kleines großes Orchester
Wagner hat riesige Orchester mit über 100 Musikern in die Schlacht geworfen. Das niederländische Bläserensemble tritt gerade mal mit 16 an. Gespielt werden auch die bei Wagner gar nicht vorgesehenen Instrumente Marimba und Saxophon (Letzteres war in der Entstehungszeit des Rings gerade frisch erfunden – Wagner war zunächst fasziniert, aber hat es dann nicht im Ring verwendet.)
Auch zwei der von Wagner geforderten Ambosse stehen auf der Bühne. Dem Klang fehlt es an nichts – das Orchester klagt, jubelt, droht, tobt, jagt einem wohlige Schauer über den Rücken. Teilweise übernehmen die Instrumente den Gesangspart. Die Musiker sitzen in der Mitte der Bühne, um sie herum sind die Kulissen für die Puppenspieler aufgebaut. Da kann es schon passieren, dass die Ameisen über die Instrumente krabbeln und einem Musiker fast in die Nase – bei diesem „Ring“ darf zwischendurch auch gelacht werden.
Heldenepos oder Naturfilm
Wer weder Wagner noch den „Ring des Nibelungen“ kennt, wird die hinterlegte Geschichte bei all dem opulenten Kämpfen und Ringen und Gewusel kaum herausfiltern können – bis auf den Umstand, dass da Insekten offenbar um einen goldenen Ring kämpfen. Doch auch dann funktioniert die Aufführung: als kunstvoller opulenter Naturfilm mit pathosgeladener Musik. Tierfilm-Pionier Hans Hass hätte Tränen der Rührung und Freude in den Augen.
Martin Hartmann, ORF Vorarlberg