„Die Passagierin“: Auschwitz auf der Opernbühne
Die Reaktion des Experten fiel eindeutig aus: „Unmöglich, vermessen, absurd." So fasste Albrecht Thiemann, Chefredakteur des Fachmagazins „Opernwelt“, seine ersten Gedanken zusammen, als er 2009 von David Pountneys Plan erfuhr, „Die Passagierin“ bei den Bregenzer Festspielen aufzuführen. Wie viele andere hielt Thiemann das Vorhaben, eine Oper, die (teilweise) im Konzentrationslager Auschwitz spielt und den Holocaust als zentrales Thema hat, für ein wahnwitziges Unterfangen.

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Am Ende war Thiemann bekehrt - und mit ihm viele andere. Die Wiederentdeckung Weinbergs sei „eine mutige, vielleicht die mutigste Tat seiner Bregenzer Intendanz“ und eine „Pionierarbeit“ gewesen, schrieb Thiemann später über Pountney. Auf „Spiegel Online“ war zu lesen, „Die Passagierin“ beantworte die Frage, „ob der zivilisatorische Jahrhundertbruch namens Auschwitz ganz konkret auf der Bühne darstellbar ist, mit einem uneingeschränkten Ja.“ Die „Süddeutsche Zeitung“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sprachen von einem „Meisterwerk“.
Langer Leidensweg
Zum Zeitpunkt, als die anfängliche Skepsis in allgemeinen Jubel umschlug, war „Die Passagierin“ bereits über 40 Jahre alt. Weinberg hatte die Oper 1968 vollendet, als Vorlage diente ihm der autobiografische Kurzroman „Pasażerka“ der Journalistin und Autorin Zofia Posmysz. Posmysz hatte ab 1942 zweieinhalb Jahre in Auschwitz verbracht und ihre Erfahrungen viele Jahre später in „Pasażerka“ niedergeschrieben. Weinberg, auch er jüdischer Abstammung, war nie in einem Konzentrationslager gelandet, verlor aber seine Familie im polnischen Zwangsarbeitslager Trawniki.
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Premierenbericht vom 22. Juli 2010
Am 21. Juli 2010 feierte Weinbergs „Die Passagierin“ Premiere bei den Bregenzer Festspielen, einen Tag später berichtete „Vorarlberg heute“ ausführlich.
Zweimal war es Weinberg gelungen, vor den Nationalsozialisten zu fliehen: Zunächst 1939 zu Fuß nach Minsk, 1941 dann nach Taschkent, dieses Mal allerdings per Eisenbahn. 1943 wurde er vom Komponisten Dmitri Schostakowitsch, seinem späteren Freund und Mentor, nach Moskau eingeladen, wo er sein neues Zuhause fand. Weinbergs Leidensweg fand damit aber kein Ende: Seine Werke passten nicht ins kulturpolitische Paradigma der stalinistischen Sowjetunion und landeten vielfach auf dem Index, er selbst kam zur Zeit der antisemitischen Ausfälle Stalins sogar ins Gefängnis.
Vorwurf: „Abstrakter Humanismus“
Kaum verwunderlich scheint vor diesem Hintergrund, dass „Die Passagierin“, Weinbergs Meisterwerk, zu seinen Lebzeiten nie aufgeführt wurde. Die Geschichte der ehemaligen KZ-Aufseherin Lisa, die mit ihrem Mann, einem Diplomaten, auf einem Luxusdampfer nach Brasilien aufbricht und dort die ehemalige KZ-Insassin Martha wiederzuerkennen glaubt, erinnerte die Zensoren in ihrer Darstellung von Auschwitz wohl doch zu stark an die Realität in den sowjetischen Gulags. Offiziell lautete der Vorwurf freilich „abstrakter Humanismus“.

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„Die Passagierin“ wurde verboten und blieb es, obwohl sich auch der angesehene Schostakowitsch wiederholt für das Werk einsetzte. 1996 starb Weinberg im Alter von 77 Jahren. Erst zehn Jahre später wurde die Oper in Moskau konzertant uraufgeführt, außerhalb der Sowjetunion bzw. der Russischen Föderation blieb der Komponist indes noch lange ein Unbekannter.
Werbeflyer als Initialzündung
Den Weg zur Wiederentdeckung ebnete viele Jahre später ein Werbeflyer des Musikverlags Peermusic, der eines Tages auf dem Schreibtisch von Festspiel-Intendant David Pountney landete. Darin informierte der Verlag, dass man einige Werke von Mieczysław Weinberg unter Vertrag genommen habe. "Der Komponist und sein Hauptwerk ‚Die Passagierin‘ interessierten mich vom ersten Moment an“, schrieb Pountney später. Als einziger Intendant in Europa antwortete Pountney auf den Flyer.
Jetzt begann eine Spurensuche, die den Briten 2008 nach Freiburg im Breisgau führte - hier traf er erstmals die „Pasażerka"-Autorin Zofia Posmysz - und später nach Auschwitz. Im ehemaligen Konzentrationslager zeigte ihm Posmysz unter anderem den Platz, an dem sie geschlafen hatte. An der Entladerampe spielte sich dann die folgende Szene ab, an die sich Pountney später lebhaft erinnerte: „Dort sang sie in ihrem akkuraten Deutsch die absurd fröhliche Operettenmelodie, die dort immer gespielt wurde, um die Illusion von Normalität an der Schwelle zu den Gaskammern herzustellen.“
86-jährige Autorin bei der Premiere
In Moskau traf Pountney mit Alexander Medwedew jenen Mann, der das Libretto für „Die Passagierin“ verfasst hatte. Medwedew erläuterte seinem Besucher, wie das Stück ursprünglich konzipiert war: Auf einer zweigeteilten Bühne sollte der obere Teil den Luxusdampfer darstellen, auf dem Lisa und ihr Ehemann nach Brasilien aufbrechen. Über Treppen sollte dieser obere Teil mit dem unteren Teil verbunden sein - dem KZ Auschwitz, in dem sich Lisa und Martha einst begegneten. Pountney und Bühnenbildner Johan Engels versuchten, dieser Konzeption zu folgen.

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Ähnlich wie Weinberg sollte auch Medwedew sein Werk nicht mehr auf der großen Bühne sehen. Nur wenige Tage nach der szenischen Uraufführung bei den Bregenzer Festspielen am 21. Juli 2010 verstarb der Librettist. Im Publikum saß hingegen die damals 86-jährige Zofia Posmysz. Wie auch viele andere Gäste, die die Uraufführung mit tosendem Applaus feierten, zeigte sich Posmysz nicht nur vom Bühnenbild angetan, sondern vor allem von Weinbergs musikalischer Mischung, die von Zwölftonmusik über Jazzelementen bis hin zu Volksmusik reichte. Später würdigte sie ebendiese Musik „als die einzige, die dazu bestimmt ist, jener unmenschlichen Welt Ausdruck zu verleihen.“
„Wiederentdeckung des Jahres“
Eine größere Würdigung als die wohlwollenden Worte der KZ-Überlebenden Posmysz kann einer Oper über Auschwitz wohl nicht mehr zuteilwerden. Nicht nur Posmysz erkannte den bleibenden Wert der „Passagierin“: Das Fachmagazin „Opernwelt“ feierte die Bregenzer Uraufführung als „Wiederentdeckung des Jahres“. Und David Pountney sagte rückblickend: „Die Wiederentdeckung Weinbergs als bedeutendem Komponisten und seine Verbreitung auf einer großen europäischen Ebene war zweifellos die wichtigste kulturelle Tat meiner Intendanz.“
Bald nach der Uraufführung bei den Bregenzer Festspielen wurde „Die Passagierin“ von weiteren Opernhäusern übernommen, darunter die English National Opera in London, das Staatstheater Karlsruhe und die Frankfurter Oper. Eine Frage wurde nur noch selten gestellt: Ob Auschwitz nun auf eine Opernbühne passe - oder eben nicht.
Markus Sturn, vorarlberg.ORF.at