Filmstill aus "No Home Movie"

Viennale

Abschied von der Mutter

Die kürzlich verstorbene belgische Regisseurin Chantal Akerman hat mit „No Home Movie“ eine schmerzhaft-intime Dokumentation über ihre todkranke Mutter versucht. Es ist das letzte Werk der feministischen Filmschaffenden und ein Denkmal der bewunderten Mutter. Doch macht das Porträt des Mutter-Tochter-Verhältnisses öffentlich, was privat ist und vielleicht auch hätte bleiben sollen.

„Dies ist vor allem ein Film über meine Mutter – meine Mutter, die nicht mehr da ist. Über diese Frau, die 1938 nach Belgien kam, auf der Flucht vor Polen, den Pogromen, den Ausschreitungen. Diese Frau, die man nur in ihrer Wohnung sieht. Einem Appartement in Brüssel. Ein Film über eine Welt in Bewegung, die meine Mutter aber nicht sieht.“, sagte Akerman über ihren letzten Film. Am 5. Oktober 2015, nur wenige Monate nach der Präsentation der Dokumentation am Filmfestival von Locarno, tötete sich Akerman selbst.

Die Mutter als Inspirationsquelle

Ihre Beziehung zur Mutter, ein fragiles Geflecht aus Bewunderung und Faszination, arbeitete die Tochter als filmisches Vermächtnis in „No Home Movie“ auf. Dabei liefert die Regisseurin durch die Einblicke in die Vergangenheit der Eltern auch eigene biografische Informationen. Die Mutter erzählt vom Ehemann, den Verwandten und auch von Akermans Großmutter, die sie als Feministin und Frau, die ihrer Zeit voraus war, beschreibt. Akerman filmt mit und offenbart eine schwelende Wunde, den drohenden wie unausweichlichen Verlust eines geliebten Menschen.

Die Regisseurin tritt im Film nicht nur stimmlich als Gesprächspartnerin in Erscheinung, sondern ist auch in manchen Einstellungen mit der Mutter zu sehen. In einer sehr persönlichen Szene sitzen die beiden sich unterhaltenden Frauen einander gegenüber und essen Erdäpfel. Ob Akerman diese Einstellung als Erinnerung an die berühmte Erdäpfelschäl-Sequenz in ihrem Film „Jeanne Dielman, 23 Quai du commerce, 1080 Bruxelles“ verstanden haben will, ist durchaus denkbar. Denn keine keine Geringere als die eigene Mutter hatte die Inspiration zu diesem 201 Minuten starken Werk geliefert, wie sie 1976 in der Zeitschrift „Frauen und Film“ sagte.

Frühes feministisches Meisterwerk

Akerman zählte bereits Ende der 1960er Jahre zu den wenigen europäischen Filmemacherinnen, die sich einen Namen gemacht haben. Mit „Jeanne Dielman“ gelang ihr ein radikales und feministisches Meisterwerk. Der Film verfolgt den streng geregelten Tagesablauf der Protagonistin, der auch den bezahlten Beischlaf mit Männern inkludiert. Drei Tage lang wird das eintönige Leben der Frau beobachtet, das in einem Mord an einem Kunden gipfelt. Das Ende zeigt eine fünfminütige Sequenz, in der die Frau still am Esstisch sitzt.

Regisseurin Chantal Akerman

Viennale

Chantal Akerman

Privates wird öffentlich

Die 1950 als Tochter polnischer Juden geborene Akerman hat sich zeitlebens in ihren Werken mit der Vergangenheit der Mutter auseinandergesetzt. Diese war mit den Eltern vor den Nazis nach Belgien geflüchtet. Während der deutschen Besatzung wurde die Familie nach Auschwitz deportiert und die Eltern im Konzentrationslager ermordet. Über ihr Verhältnis zur Mutter erzählte Akerman 2011 in einem Gespräch mit Nicole Brenez, sie sei immer noch nicht frei von ihr und berichtete vom Lagerleben der damals fünfzehnjährigen KZ-Insassin, die für Krupp Munition herstellen musste.

Diese und andere Informationen werden in der 115 Minuten dauernden dokumentarischen Annäherung an die Mutter nur angedeutet. Die Regisseurin zeigt in fast allen Einstellungen die mütterliche Wohnung in Brüssel und filmt die alte Dame beim ziellosen Umherwandern, Kochen, Essen, Schlafen, Reden – darüber hinaus passiert nicht viel. Wenngleich der Film eine Liebeserklärung an die Mutter und ihre Entschlossenheit weiterzuleben ist, schafft er es nicht, die empfundene Bewunderung und Faszination für sie spürbar zu machen.

Was kann dem Publikum zugemutet werden?

Warum sie denn dauernd von der Tochter gefilmt werde, will die Mutter wissen und erhält von Akerman als Antwort: „Ich will zeigen, dass es keine Distanz mehr gibt!“ Das Zurschaustellen einer Person, die sich dessen nicht immer bewusst ist, ist ob der sympathischen und glucksend lachenden alten Frau während der ersten eineinhalb Stunden gerade noch erträglich. In der letzten halben Stunde des Films wird das Publikum jedoch auf eine harte Probe gestellt.

Es stellt sich die Frage: Was darf dem Kinogeher zugemutet werden? Wer will all das sehen und hören? Wenngleich man gegen Schluss im Halbdunkel auf der Leinwand ohnehin kaum mehr etwas erkennen kann und die Gespräche seit Beginn, mit wenigen Ausnahmen, um Banalitäten kreisen. Die Konversationen behandeln Verwandte sowie ausstehende Besuchsverpflichtungen und manchmal werden Erinnerungen an Akermans Kindertage heraufbeschworen. Das Gezeigte ist eine ungewohnte Gratwanderung, die sich nicht recht entscheiden kann zwischen sehr persönlichen Einblicken und kühl-distanten Beobachtungen.

Stilles Abschiednehmen

Das statische und ereignislose Porträt der todkranken Mutter wirkt trotz seiner Intimität seltsam distanziert, obwohl gerade das Aufzeigen der fehlenden Distanz ein Anliegen der Regisseurin war. So wirft der Film ein Schlaglicht auf das ereignisreiche Leben einer Greisin, die gelernt hat, zu kämpfen, um zu überleben. Die Themen der Mutter-Tochter-Beziehung werden nur gestreift. Die Beschwerde der Mutter bei der älteren Schwester Akermans vorgebracht, dass Chantal nie wirklich Wichtiges von sich erzähle, sondern nur rede, fasst die Problematik des Films zusammen. Der nahende Abschied von der Mutter wird in jenen Einstellungen deutlich, in denen die Regisseurin die Wohnung ohne die Protagonistin zeigt. Es scheint als würde sie sich langsam an die Zeit „danach“ herantasten.

Unterbrochen werden die Gespräche, die manchmal auch via Skype geführt werden, durch die für die Regisseurin typischen minutenlangen Einstellungen. So lässt sich die verzweifelte Hilflosigkeit der Tochter in solch langen Einstellungen, die meist außerhalb der Wohnung gefilmt wurden, erahnen. Schon das erste Tableau zeigt über mehrere Minuten einen vom Wind gepeitschten halbverdorrten Baum in einer kargen Landschaft. Akerman gibt zum einen das filmische Tempo vor und thematisiert gleichzeitig damit den Filmtitel. Denn die Entwurzelung der Mutter, durch die Auslöschung ihrer gesamten Familie, verunmöglicht den Begriff der Heimat.

Angestrengt anstrengend

Akermans Porträt der greisen Mutter schließt, wie es begonnen hat - mit einer überlangen Einstellung. Zu sehen ist das nun leere Wohnzimmer, in das der Tod Einzug gehalten hat. Der schwerverdauliche Film bleibt diffus und irritiert in seiner Sprachlosigkeit. So wirkt „No Home Movie“ angestrengt anstrengend. Und dennoch erinnert er gleichzeitig daran, dass die Filmwelt eine große Filmschaffende verloren hat.

Carola Leitner, ORF.at

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