„Anomalisa“: Surreale Animationen zum Abschluss
„It’s boring, everyone is boring.“ Für Michael Stone (Stimme von David Thewlis) ist der Alltag untragbar geworden. Als erfolgreicher Autor eines Leitfadens für besseres Kundenservice tourt er durch die Vereinigten Staaten, um dort vor begeisterten Mengen motivierende Reden zu halten. Flugzeug, Taxi, Hotel, Vortrag: ein monotoner Tagesablauf, der sich laufend wiederholt. Dabei werden nicht nur Orte, sondern vor allem Menschen beliebig austauschbar.
Banaler Alltag ohne Ausweg
Selbst der allabendliche Anruf bei Frau und Kind aus dem Hotelzimmer ist längst zur Routine geworden. Stone ist gefangen in einem nicht enden wollenden Zyklus der Banalität, den Kaufman bis ins kleinste Detail auf der Leinwand vorführt. Komisches Highlight ist der Versuch, Zimmerservice zu ordern: Auf dem Telefon befinden sich gleich mehrere Knöpfe mit verschiedenen Essenspiktogrammen - die Entscheidungsfindung entwickelt sich zum langgezogenen Sketch, der keine Zweifel an Stones zermürbendem Alltag lässt.
Viele Charaktere, nur drei Schauspieler
Erst als der geplagte Autor eine liebliche Stimme auf dem Gang hört, jene von Lisa (Jennifer Jason Leigh), nimmt die Nacht im Hotel für ihn eine unerwartete Wendung. Es dauert nicht lange, bis eines zum anderen - in dem Fall das Hotelzimmer von Michael - führt. Was folgt, ist die wahrscheinlich gefühlvollste Sexszene der diesjährigen Viennale. Kaufman und sein Koregisseur Duke Johnson erzeugen Erotik mit Puppen, die echter als so manch „realer“ Spielfilm wirkt.

Reuters/Stefano Rellandini
Internationales Lob für „Anomalisa“
Die Viennale ist nicht der erste Festival-Zwischenstopp desFilm: Nach ersten Screenings in den USA wurden Charlie Kaufman und Duke Johnson in Venedig mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. Auf dem Bewertungsportal Rotten Tomatoes, das Rezensionen verschiedener Medien samt, hält der Film momentan bei 100 Prozent Zustimmung.
Doch einem abrupten Happy End (und einer zahnlosen romantischen Komödie) steht Kaufmans Faible für das Surreale im Weg: Neben Leigh und Thewlis teilen sich die restlichen Figuren einen einzigen Synchronsprecher (Tom Noonan), der mit monotoner Stimmfarbe jede einzelne Nebenrolle einspricht. Was anfangs nach einer budgetären Maßnahme klingt - wie so viele Filme dieses Jahr wurde auch „Anomalisa“ zuerst mittels Kickstarter finanziert -, ist allerdings der uniformen Wahrnehmung der Protagonisten geschuldet.
Was macht den Menschen aus?
Auch unter den aufwendig gestalteten Puppen, die einen täuschend - beinahe erschreckend - echten Eindruck vermitteln, lassen sich Ähnlichkeiten ausmachen - so wird die unheimliche Grundstimmung noch unterstrichen. Die aus dem 3-D-Drucker stammenden Gesichter weisen einen Schnitt zwischen der oberen und der unteren Gesichtshälfte auf, der entlang der Augen verläuft. Während der obere Teil in Frisur und Gestik variiert, bleibt der untere Teil der Figuren stets gleich - die Gesichter sehen dadurch wie Masken aus.
Nach und nach verschwimmen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Einsamkeit und Liebesglück - und Stone sieht sich mit existenziellen Fragen konfrontiert: Was bedeuetet es, Mensch zu sein, was heißt es, am Leben zu sein? Wie auch in seinen bisherigen Filmen wirft Kaufman gerne derart komplexe Themen in den Raum - und überlässt auf Nachfrage in Interviews und Pressekonferenzen deren Deutung lieber seinem Publikum.
Filmhinweis
„Anomalisa“ ist der Abschlussfilm der Viennale und läuft am 5. November um 19.30 und 23.00 Uhr im Gartenbaukino. Der Filmstart in Österreich ist für 2016 geplant.
Portion Menschlichkeit in einer Welt voller Puppen
Mit Stop-Motion-Animation als Medium transportieren die beiden Regisseure Michael Stones Krise in einer Form auf der Leinwand, die dessen psychischen Zustand auch tatsächlich für das Publikum hör- und sichtbar (und damit greifbar) macht. Dadurch wird die Gefühlswelt des Protagonisten verständlich, vielleicht sogar zum zwischenzeitlichen Identifikationsgrund. Statt einer reinen Zurschaustellung gelingt es dem Regisseursduo, das Publikum an Michaels Situation teilhaben zu lassen.
Ein Motivationskünstler, der die Wichtigkeit der Individualität jedes Einzelnen predigt, aber selbst nicht in der Lage ist, diese Einzigartigkeit zu sehen: Es ist keine schöne Vorstellung, die Kaufman vorführt. „Anomalisa“ ist eine Geschichte über Liebe, Einsamkeit und letztlich Menschlichkeit - und kommt dabei gänzlich ohne Schauspieler aus. Ein außergewöhnlicher Schlusspunkt für eine Viennale ganz im Zeichen der Tiere.
Florian Bock, ORF.at
Links:
- Anomalisa (offizielle Seite)
- Anomalisa (Kickstarter-Kampagne)
- Charlie Kaufman (IMDb)