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„Schlechtes Zeichen für den Rechtsstaat“

Einen tödlichen Messerangriff auf einen 35-jährigen Deutschen in der Nacht auf Sonntag in Chemnitz im deutschen Bundesland Sachsen nehmen Rechtsextreme seit dem Wochenende als Vorwand, um Unterstützer und Unterstützerinnen zu mobilisieren. Zum zweiten Mal in Folge gingen Montagabend 6.000 Rechte auf die Straße. Ihnen standen 1.500 linke Gegendemonstranten und -demonstrantinnen gegenüber.

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Es gibt Hinweise auf Hitlergrüße, Augenzeugenberichte erzählen von Flaschen und Feuerwerkskörpern, die auf die linken Gegner geworfen werden. Dazwischen stand die Polizei - mit knapp 600 Einsatzkräften. Sie räumte selbst ein, mit zu wenig Personal präsent gewesen zu sein, zahlreiche Straftaten wurden nicht direkt verfolgt. Ein Polizeisprecher bezeichnete das als „Prinzip der Deeskalation“. Andere kritisierten das als „schlechtes Zeichen für den Rechtsstaat“. Die Polizei hatte jedenfalls große Mühe, die beiden Gruppen auseinander zu halten und eine schlimmere Eskalation zu verhindern.

Rechte Demonstranten in Chemnitz

APA/dpa/Jan Woitas

Montagabend standen 600 Einsatzkräfte der Polizei rund 6.000 Teilnehmenden einer rechten Demonstration gegenüber

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hielt am Dienstag das Gewaltmonopol des Staates hoch: „Der sächsische Staat ist handlungsfähig - und er handelt.“ Doch muss sich die Regierung in Dresden am Dienstag Kritik gefallen lassen, zu lange weggeschaut zu haben. Die rechte Szene in Chemnitz habe sich neu formiert und Anknüpfungspunkte für rechte Protesttouristen aus dem ganzen Land geboten, kommentierte die „Zeit“.

Die Ereignisse zeigten deutlich die Polarisierung der Gesellschaft, so der Rechtsextremismusexperte der Amadeu Antonio Stiftung, Robert Lüdecke, gegenüber der dpa: „Der Rassismus bricht sich unverhohlen Bahn.“ Menschen äußerten immer unverhohlener, welche Menschen sie in Deutschland haben möchten und welche nicht.

„Stabile rechte Milieus in Sachsen“

Seit Jahren gilt Sachsen als eine Hochburg des Rechtsextremismus und der Rechten. Die neonazistische NPD war von 2004 bis 2014 im Landtag vertreten. Sie ist inzwischen noch regional vertreten, in der rechten Szene aber hat sie auf parteipolitischer Ebene zugunsten der AfD an Bedeutung verloren.

Sachsen sorgte immer wieder mit Krawallen durch randalierende Rechtsradikale für Aufsehen - in Heidenau, in Dresden und nun in Chemnitz. Laut dem Sächsischen Verfassungsschutzbericht von 2017 sind rund 2.600 in „rechtsextremistischen Bestrebungen aktiv“. 1.959 Straftaten waren demnach im vergangenen Jahr auf Rechtsextreme zurückzuführen.

Polizisten gehen zwischen Rauchbomben in Heidenau

Reuters/Axel Schmidt

2015 gab es gewaltsame Proteste gegen die Eröffnung einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Heidenau

Die fremdenfeindliche und rassistische PEGIDA nahm in Sachsens Hauptstadt Dresden ihren Anfang, die Neonazi-Terrorzelle NSU hatte in Chemnitz und Zwickau ihr Hauptquartier. In Ostdeutschland haben sich „stabile und bis heute reproduzierende rechte Milieus entwickelt“, analysierte der Rechtsextremismusexperte David Begrich in der deutschen „Tagesschau“. Auch wenn die Akteure und Akteurinnen von damals nicht mehr gewaltbereit seien, würden sie als Eltern diese Einstellung weitergeben.

Rechte Szene gut vernetzt

Der sächsische Verfassungsschutz rechnet der rechtsextremistischen Szene in Chemnitz 150 bis 200 Menschen zu. Die Zahl der Neonazis und gewaltbereiten Hooligans, die am Montag auf die Straße gegangen waren, ist um einiges höher. Zum einen ist die rechte Szene gut vernetzt. Zum anderen konnte sich die rechte Hooligan-Szene neue Milieus erschließen.

Besonders über Soziale Netzwerke können viele Menschen schnell mobilisiert werden - „auch über den eigenen Dunstkreis hinaus“, so Lüdecke. Da habe die Szene jahrelange Erfahrung damit. Zudem sei jahrelang versucht worden, Rechtsradikalen und Rechtspopulisten den Zugang zu normalen Medien zu versperren. So hätten diese erst recht versucht, sich über das Internet zu organisieren, sagte der in Dresden arbeitende Politologe Werner Patzelt im Ö1-Mittagsjournal - mehr dazu in oe1.ORF.at.

Unterstützung in Bevölkerung

In Chemnitz gebe es eine organisierte rechtsextreme Szene und „das klassische PEGIDA-Mitläufertum“, unterstützt durch Hooligan-Gruppen, sagte Lüdecke. Rechte Gruppen hätten sich jahrelang ein Umfeld geschaffen, „das sie unterstützt - auch in der Bevölkerung“, analysierte die „Zeit“. Als eine Ursache dafür ortet Patzelt auch ein „Versagen der Politik“. Diese habe nicht ernst genommen, als in Sachsen die ersten PEGIDA-Proteste begonnen hatten. Bundesweites Sachsen-Bashing habe zu einer Solidarisierung in Sachsen geführt. Wenn Bürgerproteste nicht ernst genommen werden, treibe das Menschen Rechtspopulisten in die Arme.

Rechter Demonstrant schreit zwei Polizisten in Chemnitz an

APA/AFP/dpa/Sebastian Willnow

Die rechtsextreme Szene mobilisierte Unterstützung über Soziale Netzwerke

Bis zu ihrem Verbot 2014 dominierte die Vereinigung der Nationalen Sozialisten Chemnitz (NSC) die Szene. Danach organisierte sie sich neu. Ehemalige NSC-Mitglieder schlossen sich unter anderem der Partei Der dritte Weg oder subkulturellen Gruppen an, die unter anderem in der rechtsextremen Musikszene und in der Hooligan-Szene aktiv sind. Der Verfassungsschutz nennt hier etwa die Hooligan-Gruppe Kaotic Chemnitz.

„Journalisten nicht mehr sicher“

Diese hatte nach dem Vorfall in der Nacht auf Sonntag via Facebook Fans des Chemnitzer Fußballclubs dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen, um zu „zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat“. Gekommen sind nicht nur die Fußballfans, sondern auch Familien mit Kindern, berichtete die „Zeit“. Auch laut der Demo-Berichterstattung des „Spiegel“ mischte sich bei den rechten Kundgebungen die bürgerliche Mitte mit Neonazis. Laut Polizei ist die Zahl der Demonstrierenden aufgrund „offensichtlich bundesweiter Mobilisierung“ höher als erwartet gewesen.

Das rechte Lager sei dem linken weit überlegen gewesen: „Andersdenkende und Journalisten können sich nicht mehr sicher fühlen“, so der „Spiegel“. Am Dienstag warnte auch der Deutsche Journalistenverband (DJV) zu „besonderer Vorsicht“: „Berichtende Journalisten müssen wissen, dass sie von gewaltbereiten Rechtsextremisten als Gegner und nicht als unparteiische Beobachter gesehen werden.“

Politik alarmiert

Die Politik ist alarmiert. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verurteilte die Ausschreitungen. Das „darf in einem Rechtsstaat keinen Platz haben“. Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) sieht im Rechtsextremismus eine „Gefährdung“ des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Sein Parteikollege Burkhard Lischka sieht sogar die Gefahr „von bürgerkriegsähnlichen Zuständen“ durch einen „kleinen rechten Mob, der jeden Anlass zum Vorwand nimmt und nehmen wird“.

Registrierte Gewalttaten mit rechtsextremem Hintergrund 2017 pro 100.000 Einwohner nach Bundesländern - Karte

Grafik: APA/ORF.AT; Quelle: APA/dpa/Verfassungsschutzbericht/Statist. Bundesamt

Die Grünen-Fraktion im sächsischen Landtag will in einer Sondersitzung klären, warum „gewaltbereite Neonazis zu Tausenden nahezu unkontrolliert eine ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzen können“. Es dürfe keine Selbstjustiz in Deutschland geben, so zahlreiche politische Stimmen. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) warnte aufgrund von Personalknappheit bei der Polizei von einem Risiko zunehmender Selbstjustiz. Beobachter kritisierten die häufige falsche Lageeinschätzung der Polizei.

Seehofer hat Verständnis für Chemnitzer

Für große Kritik hatte der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) gesorgt. Er hatte bis Dienstagmittag beharrlich zu den Vorfällen geschwiegen. Dann bot er den sächsischen Sicherheitsbehörden Hilfe an: „Sofern von dort angefordert, steht der Bund mit polizeilichen Unterstützungsmaßnahmen zur Verfügung.“ Für die Betroffenheit der Chemnitzer nach der tödlichen Messerattacke zeigt er Verständnis: „Aber ich will auch ganz deutlich sagen, dass dies unter keinen Umständen den Aufruf zu Gewalt oder gewalttätige Ausschreitungen rechtfertigt.“

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