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Gezielte Provokation vermutet

Mit Schlagstöcken und Tränengas ist die Polizei in Rumänien am Freitag gegen eine Demonstration vor dem Regierungsgebäude in Bukarest vorgegangen. Medienberichten zufolge wurden über 450 Personen verletzt, 65 mussten mit teils schweren Verletzungen im Krankenhaus behandelt werden. Laut Veranstaltern nahmen an dem Protest 110.000 Menschen teil.

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„Wir gehen nicht weg“, „Rücktritt“, „Fort mit der Mafia-Regierung“, „Ohne Straftäter in hohen Ämtern“, „Wir sind das Volk“ und „Wir geben nicht auf“ skandierten die Demonstrierenden, von denen viele extra aus dem Ausland angereist waren. Auch die Polizei bekam Sprechchöre ab: „Ohne Gewalt“ und „Schämt euch, ihr beschützt Diebe“, hieß es wiederholt in Richtung Polizei, die die Teilnehmerzahl geringer als die Veranstalter einschätzte.

Proteste in Rumänien

Reuters/Inquam Photos/Octav Ganea

Die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas ein

Weil Demonstrierende die Absperrungen durchbrachen und zum Regierungssitz vordringen wollten, setzte die Polizei schon zu Beginn der Demonstration Tränengas und Schlagstöcke ein. In rumänischen Medien wurde vermutet, dass es sich um Provokateure handeln könnte, deren Gewaltbereitschaft der Polizei einen Vorwand zum Eingreifen liefern sollte.

Polizeigewalt heizte Stimmung weiter an

Zahlreiche Verletzte mussten in Krankenhäuser gebracht werden. Weitere, darunter eine gehbehinderte Frau im Rollstuhl, verloren das Bewusstsein und mussten auf Tragen zu den bereitstehenden Rettungswagen gebracht werden. Als Folge wurde die Stimmung noch explosiver, die Polizei setzte bis zum späten Abend mehrfach Tränengas und kurzfristig sogar Wasserwerfer ein und ließ Sondereinsatzkräfte aufmarschieren.

Der Polizeieinsatz war auch für das protestgewöhnte Bukarest außergewöhnlich. Ein ORF-Team an Ort und Stelle wurde ebenfalls attackiert: Im Zuge eines Einsatzes gegen Hooligans prügelten Polizisten mit Schlagstöcken auf den Kameramann ein. Erst als er mehrmals gerufen habe, dass er Kameramann sei, habe die Polizei von ihm abgelassen, so ORF-Korrespondent Ernst Gelegs.

Kameramann „regelrecht verprügelt“

Der ORF protestierte am Samstag „auf das Schärfste gegen das gewaltsame Vorgehen der rumänischen Sicherheitskräfte“. Der Kameramann sei „regelrecht verprügelt“, Korrespondent Gelegs „nur knapp dem Hieb eines Polizisten mit dessen Schild“ entkommen und anschließend festgehalten worden.

Polizei geht auf Kamerateam los

ORF-Korrespondent Ernst Gelegs schildert die Situation an Ort und Stelle. Während des Berichts wurde auch das österreichische Kamerateam attackiert.

Generaldirektor Alexander Wrabetz wandte sich in einer Aussendung am Samstag „entschieden gegen eine solche Vorgangsweise“, die auch in einer Ausnahmesituation „keinesfalls zu akzeptieren ist“. Das ORF-Team sei „unschwer von den gewalttätigen Demonstranten zu unterscheiden“ gewesen. In einem EU-Land sei „zu erwarten, dass nicht mit brutaler Gewalt gegen Medienvertreter vorgegangen wird“.

Auch der Österreichische Journalisten Club (ÖJC) verurteilte das Vorgehen der rumänischen Polizei. In einer Protestnote an Rumäniens Innenministerin Carmen Dan forderte der Verband eine Untersuchung des Vorfalls. Der Kameramann sei „regelrecht verprügelt“ worden. „Rumänien ist Mitgliedsland der Europäischen Union und hat daher die Standards der Pressefreiheit in Europa zu achten.“

Fahnenmeer von Auslandsrumänen

Die Demonstrierenden ließen sich von Reizgas und Hitze nicht abschrecken und demonstrierten bis spät in die Nacht vor dem Regierungsgebäude. Auf dem zentralen Siegesplatz war ein riesiges Fahnenmeer zu sehen, da viele Auslandsrumänen auch die Fahnen ihrer Wohnländer schwenkten: britische, spanische, italienische, US-amerikanische, kanadische, deutsche, belgische, dänische, schwedische, österreichische und viele andere. Kurz vor Mitternacht räumte die Polizei den Siegesplatz, sie setzte dabei erneut Wasserwerfer und Tränengas ein.

Proteste in Rumänien

Reuters/Inquam Photos/Octav Ganea

Zigtausende Rumänen und Rumäninnen waren aus dem Ausland zur Demo nach Hause gekommen

Rücktritt der Ministerpräsidentin gefordert

Die Menschen forderten den Rücktritt von Ministerpräsidentin Vasilica Viorica Dancila und des sozialdemokratischen Parteichefs Liviu Dragnea als Parlamentspräsident, denen Korruption und eine Bevormundung der Justiz vorgeworfen werden. Auch in mehreren anderen Städten - Sibiu, Cluj, Timisoara, Brasov, Iasi, Oradea, Galatz, Craiova und Constanta - demonstrierten weitere Zehntausende gegen die sozialdemokratische Regierung (PSD).

Proteste gegen Regierung

Auslandsrumänen und Auslandsrumäninnen initiierten eine Großkundgebung gegen die regierenden Postsozialisten, denen Korruption und umstrittene Strafrechtsreformen angelastet werden.

Unmittelbarer Anlass für das Aufflammen der Antiregierungsproteste ist die Entlassung der angesehenen Sonderstaatsanwältin Laura Kövesi Anfang Juli. Sie musste auf Betreiben der Regierung ihren Hut nehmen, der verfassungsrechtlich umstrittene Schritt wurde von dem der Regierung nahestehenden Verfassungsgericht gutgeheißen, ein ensprechendes Dekret von Präsident Klaus Iohannis schließlich unterzeichnet - obwohl er sich zuerst gegen die Entlassung gewehrt hatte. Kövesi hatte zahlreiche Politiker der Korruption überführt und ins Gefängnis gebracht.

Rumäniens Präsident Klaus Iohannis und die oberste Antikorruptionsstaatsanwältin Laura Codruta Kövesi

Reuters/Inquam Photos/Octav Ganea

Rumäniens Präsident Klaus Iohannis weigerte sich zunächst, Kövesi zu entlassen, fügte sich dann allerdings dem Verfassungsgericht

Wegen Wahlmanipulation vorbestraft ist auch der starke Mann der rumänischen Regierung, Dragnea, als dessen Marionette Dancila gilt. Er selbst kann deswegen derzeit nicht Ministerpräsident werden. Er wurde zudem in erster Instanz wegen Anstiftung zum Amtsmissbrauch verurteilt.

Präsident kritisiert „brutales Vorgehen“

Johannis kritisierte am späten Freitagabend auch das „brutale Vorgehen“ der Polizei gegen die Demonstrierenden. Von Innenministerin Carmen Dan (PSD) forderte er umgehend eine Erklärung zu dem „völlig unverhältnismäßigen Einsatz“ der Sicherheitskräfte gegen die vorwiegend friedlichen Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Großdemonstration. In einer authentischen Demokratie habe jeder Bürger das Recht zu demonstrieren, der Versuch, „den freien Willen der Menschen durch Polizeigewalt zu brechen“, sei zu verurteilen, so Johannis per Facebook.

Wegen des brutalen Vorgehens der Polizei forderte die bürgerliche und liberale Opposition den Rücktritt der Innenministerin sowie der gesamten Polizeileitung. Die Polizei sei „wie eine Kriegsmaschine“ gegen die überwiegend friedlich demonstrierenden Menschen vorgegangen, nicht wie „Ordnungshüter im Dienste der Bürger“, sagte Liberalen-Chef Ludovic Orban.

„Expats“ gegen Sozialdemokraten

Zur Demo aufgerufen hatten mehrere Verbände von Auslandsrumänen und Auslandsrumäninnen („Expats“). Seit Tagen waren Zehntausende von ihnen aus ganz Europa, Nordamerika und sogar aus Asien angereist. Laut rumänischer Grenzpolizei passierten allein in den 24 Stunden vor der Demo mehr als 220.000 rumänische Staatsangehörige die Grenzübergangspunkte - viele von ihnen in Autokolonnen, die anschließend während ihrer Durchreise bis nach Bukarest in zahlreichen Städten und Ortschaften mit Jubel begrüßt wurden.

Proteste in Rumänien

AP/Vadim Ghirda

Gleich zu Beginn der Demonstration setzte die Polizei Tränengas ein

Man sei wegen der Willkür und Korruption der Postsozialisten ins Ausland geflüchtet und werde nicht zulassen, dass die Erbinnen und Erben des Kommunismus das Land „nochmals zugrunde richten“, so der Tenor unter den „Expats“. Die im Ausland wohnhaften Rumäninnen und Rumänen sind als dezidierte PSD-Gegnerinnen und -Gegner bekannt, weswegen Letztere seit Jahren bemüht sind, bei Wahlen möglichst wenige „Expats“ abstimmen zu lassen, indem ihnen konstant viel zu wenige Wahllokale zur Verfügung gestellt werden.

Etwa vier Millionen Rumänen und Rumäninnen (bei einer Gesamtbevölkerung von 20 Millionen) arbeiten nach Behördenangaben im Ausland, davon die Hälfte in Italien und Spanien. Im vergangenen Jahr schickten sie 4,3 Milliarden Euro an ihre Familien in der Heimat. Das entspricht etwa 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Rumänien ist einer der ärmsten Länder der Europäischen Union.

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