Themenüberblick

Schrille Performance mit Tiefe

Mit „Caen Amour“ hat Trajal Harrell mit seinem Ensemble am Sonntag im ausverkauften Wiener Kasino am Schwarzenbergplatz eine denkwürdige und außergewöhnliche Performance geliefert. Der gefeierte New Yorker Choreograf begeisterte mit seiner farbenfrohen modernen „Hoochie Coochie“-Show, die auch soziale und sexuelle Abgründe effektiv ans Licht brachte.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Das „Hoochie Coochie“-Format, das Ende des 19. Jahrhunderts in den USA wegen seiner sexuell aufgeladenen Darbietungen für Skandale gesorgt hatte, diente „Caen Amour“ als Leinwand für die Diskussion von Gender und dessen Entwicklung - wie weit haben wir uns vom Geschlechterbild von vor über 100 Jahren tatsächlich verabschiedet?

Zunächst sah alles nach lockerer Unterhaltung aus: Harrell begrüßte das Publikum euphorisch, während er zu moderner Popmusik tanzte. Vor Beginn der eigentlichen Darbietung erklärte die Künstlerin Teresa Vittucci dem Publikum das Konzept und die Regeln des Abends anhand von Flugblättern: Das Publikum war dezidiert zur aktiven Teilnahme aufgefordert, denn es sollte sich nicht nur vor der in der Mitte des Raumes aufgebauten Bühne aufhalten, sondern auch hinter die Kulissen schauen. Auf dem Weg dahin gab es Schnaps zur freien Entnahme.

„Ist jemand unter 18?“

Mit „Ist jemand unter 18? Es wird Nacktheit geben! Wenn euch das nicht passt, schließt die Augen“ läutete Vittucci eine schrille, intensive und gleichzeitig nachdenkliche Performance ein, die gerade zu Beginn noch heiter und beinahe komisch war. Die Tänzerin Perle Palombe und ihre männlichen Kollegen Thibault Lac und Ondrej Vidlar zerschlugen zunächst die geschlechtsspezifischen Kleidungsklischees - so wurde eine Hose zum Poncho und ein Blazer zum Rock.

Diese Abstraktion wurde weitergeführt, bis die Tänzer nur noch mit verschiedensten unkonventionell geschnittenen Stoffen hantierten und diese zu Kleidungsstücken machten. Die gleichzeitig exzellent dargebotenen Tanzfiguren waren bewusst orientalisch inspiriert, wodurch sie dem Klischee des Verführerischen entsprachen. Dieser feminin konnotierte Tanzstil wurde jedoch zumeist von Lac und Vidlar bravurös dargeboten - ausschweifende Bauchtänze inklusive.

Erotik und Ausbeutung

Mit dem Blick hinter die Kulissen offenbarte sich jedoch im Kontrast zur vorderen Bühnenbildpartie eine andere Welt, die anhand von Requisiten die Hoffnungen, Träume und Vorbilder der Performer in virtuoser Unordnung zeigte. Mit dem splitternackten Tanz von Palombe und den sinnlichen orientalischen Tanzfiguren von Lac und Vidlar zeigte sich jedoch das Spannungsfeld zwischen der erotischen Exotik der Darbietung und der Ausbeutung der Performer im Licht der noch immer bestehenden Geschlechterrollenbilder und Gendervorstellungen.

Das Publikum übernahm die wenig schmeichelhafte Rolle des lüstern glotzenden alkoholisierten Zuschauers, der die sexuell aufgeladene Stimmung beäugt. Weil die Besucher die Bühne geradezu umzingelten, hatten die Darsteller in den rund 75 Minuten auch keinen Rückzugsort vor ihren Blicken.

Begeisterung beim Publikum

Die Musik unterstützte die Entwicklung von vordergründig froher Unterhaltungsveranstaltung hin zum Sinnbild sozialer und sexueller Unterdrückung perfekt. Der zu Beginn dominierende unbeschwerte Pop und die leidenschaftlichen lateinamerikanischen Klänge wurden immer mehr mit düsteren und melancholischen Stücken verwoben, die die fröhlichen Melodien schlussendlich ganz verdrängten, bis Harrell selbst im Türrahmen zwischen Bühne und Garderobe schluchzend zusammenbrach.

Das Publikum war von dieser aufwühlenden und innovativen Performance, deren anspruchsvolle Choreographie präzise und beeindruckend umgesetzt wurde, schwer begeistert. Mit seiner Performance zeigte Harrell eindrucksvoll die mögliche Realität hinter den Kulissen von Modeschauen, Varieteprogrammen und Nachtclubs, die den Zuschauern vor Augen führte, dass vollständige sexuelle Gleichberechtigung noch immer nicht erreicht ist.

Link: